Predigttexte
Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 16. Juli 2023
Abschied in Würde
Auf dem Weg über einen Friedhof bin ich an einer Wiese vorbeigekommen auf der ein Stein darauf aufmerksam macht, dass dort Menschen anonym bestattet wurden. Auf mich wirkte die Wiese aufgeräumt und trostlos. Mich hat das nachdenklich gemacht. Es gibt Menschen, denen es sehr wichtig ist, was rund um ihren Tod geschieht und die im Detail festlegen, wie ihre eigene Beerdigung stattfinden soll. Manche Menschen wollen aus verschiedenen Gründen bewusst anonym begraben werden. Andere wiederum äußern keinen letzten Willen. Es bleibt dann bei den Angehörigen darüber zu entscheiden, wie eine angemessene und würdige Bestattung stattfinden kann, immer auch im Blick darauf, was finanziell möglich ist.
Aber was ist mit Menschen, die keine Angehörigen und kein Vermögen haben und vielleicht als obdachlos gelten? Diese Menschen werden im Allgemeinen per Sozialbestattung durch die Kommunen bestattet – ebenfalls anonym. Traueranzeige, Gottesdienst, Blumen, Kerze, Musik gibt es dann nicht. Eine Sozialbestattung kann sogar, wenn es kostengünstiger ist, ortsfremd außerhalb des sozialen Umfelds der Verstorbenen stattfinden.
Oftmals bekommen Freunde und Bekannte der Verstorbenen deren Tod nicht mit und haben dann auch kein Grab, an dem sie Abschied nehmen können. Die Menschen werden bestattet, ohne dass ein Name von ihrem gelebten Leben zeugt. Es ist, als hätten die Menschen nie existiert.
Eine Sozialbestattung mag kostengünstig sein, aber ist es auch würde- und respektvoll Menschen gegen ihren Willen anonym zu bestatten? Auch wenn der Mensch nicht mehr anwesend ist, sollte der Name bleiben. Mit dem Namen bleiben die Erinnerungen an die Menschen lebendig, daran was sie ausgemacht hat, was sie gefreut hat und worüber sie traurig waren. Die Bestattung ist für Christen ein Werk der Barmherzigkeit. Vor Gott ist der Mensch mit seiner Lebensgeschichte einzigartig, unverlierbar und unvergessen. Eine namenlose Bestattung an einem fremden Ort ohne den erklärten Willen missachtet die Einzigartigkeit eines jeden Menschen und das Bedürfnis nach Trauer.
Wolfgang Dittrich, Referent für Gesellschaftliche Verantwortung im Ev. Dekanat Wetterau
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 25. Juni 2023
Der Siebenschläfertag
„Hier kommt Bettmensch, halb Mensch und halb Bett. Hört sich komisch an, ist eigentlich ganz nett.“ Bei diesen Zeilen bekomme ich sofort einen Ohrwurm. Bettmensch ist mein Lieblingssong des Hamburger Sängers Olli Schulz. Er besingt eine Art Gegenentwurf zum Superhelden Batman, wie ich ihn mir kaum sympathischer vorstellen kann: „Meine Stärken sind die Schwächen, doch ich werd‘ die Guten rächen und die Bösen verschlafen, bestrafen.“
Die Idee ist nicht neu. Diese Superkraft wurde schon im Jahr 250 beschrieben. Einer Legende nach versteckten sich sieben junge Christen in einer Höhle. Ihre Verfolger entdeckten sie und mauerten sie ein. Womit sie allerdings nicht gerechnet haben: Die sieben Christen konnten richtig gut schlafen. 195 Jahre später wurden sie zufällig gefunden und am 27. Juni geweckt, dem heutigen Siebenschläfertag. Als sie aus der Höhle kamen, berichteten sie ausgeschlafen und glaubhaft von der Auferstehung der Toten.
Auch Jesus konnte zum Bettmensch werden. Als ein Sturm auf hoher See fast das Schiff zum kentern brachte, hat er tief und fest geschlafen. Bis seine Freund*innen ihn weckten. Nachdem Jesus dem Sturm befohlen hatte, sich zu beruhigen, fragte er sie: „Warum habt ihr solche Angst, habt ihr immer noch keinen Glauben?“
Es können halt nicht alle Bettmensch sein, doch solche Vorbilder sind gut. Auch in der Kirche, wo angestrengt versucht wird, etwas gegen den Mitgliederrückgang und leere Kirchenbänke zu tun. Vielleicht brauchen wir gar nicht immer mehr, noch kreativere Ideen und müssen überall zeigen, dass wir noch da sind, sondern dürfen einfach unverfälscht, ehrlich und menschlich sein. Wir haben ja diese Superkraft, die in den Schwachen mächtig ist. Und entspannt sind wir sicher viel einladender. Das weiß auch Olli Schulz: „Ich bin Bettmensch, halb Mensch und halb Bett und wenn du noch zu mir kommst, wär‘ dieser Song perfekt.“ Allen einen gemütlichen Siebenschläfertag.
Pfarrer Joachim Neethen, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ Pfingsten 2023
Sprich mit mir!
Zum bevorstehenden Pfingstfest ein Witz: Im Wald herrscht großer Aufruhr. Unter den Tieren geht das Gerücht um, dass der Bär eine Todesliste habe. Alle fragen sich, wer da drauf steht. Als erster nimmt der Hirsch allen Mut zusammen, geht zum Bären und fragt: Sag mal Bär, steh ich auf deiner Liste? Ja, sagt der Bär, dein Name steht auf der Liste. Voll Angst dreht der Hirsch sich um und geht. 2 Tagen später wird der Hirsch tot aufgefunden. Die Angst bei den Waldbewohnern steigt und die Frage, wer noch auf der Liste steht, treibt alle um. Nun geht das Wildschwein zum Bär: „Stehe ich auch auf der Liste?“ „Ja, du stehst auch auf der Liste!“ Verängstigt verabschiedet sich das Wildschwein. 2 Tage später war es tot. Nun bricht Panik unter den Waldbewohnern aus. Nur der Hase traut sich noch den Bären aufzusuchen. „Bär, stehe ich auch auf der Liste?“ „Ja, auch du stehst auf der Liste!“ „Sag mal“, fragt der Hase nach. „kannst du mich von der Liste streichen?“ „Ja klar“, sagt der Bär, „kein Problem!“
Mit einem Mal, mit einer Nachfrage, mit einer Bitte ist ein beängstigendes Problem aus der Welt geschafft. Auch heute könnte sich manches Verhältnis unter uns entspannen, wenn wir miteinander mehr und klarer redeten. Kannst du mich von der Liste streichen? so lautet die einfache Frage des Hasen an den Bär. Als der mit Ja antwortet, bahnt sich der Ausweg an, die Angst löst sich und am Ende wird alles gut. Pfingsten ist das Fest, das davon erzählt, wie in Jerusalem Tausende Menschen aus aller Herren Länder mit fremden Sprachen sich auf einmal untereinander verstehen. Der Heilige Geist, der sie an diesem Tag erfüllte, machte das möglich. Pfingsten ist das Fest der Verständigung. Möge der Gottes Geist auch uns bewegen, damit wir immer wieder aufs Neue versuchen einander zu verstehen und ins Gespräch miteinander zu kommen. Auch wenn es manchmal schwer fällt. In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein Gesegnetes Pfingstfest!
Pfarrerin Claudia Ginkel, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 31. Dezember 2022
Gesehen werden
Ein Jahr geht zu Ende. Viele von uns werden in diesen Tagen ihr persönliches Jahr noch einmal Revue passieren lassen. Mit den gelungenen und auch weniger gelungenen Momenten. Eine besondere Urlaubsreise, ein Konzert, die Geburt eines (Enkel)-Kindes mögen dabei für manche Höhepunkte gewesen sein.
Zu den gelungenen Momenten im Leben gehören für mich immer wieder auch Begegnungen mit anderen Menschen, wo eine besondere Nähe entstanden ist, ich das Gefühl hatte, dass ich mit meiner Geschichte und meinen Erfahrungen wertschätzend wahrgenommen und gesehen werde.
Ja, es tut uns gut, wenn wir gesehen und nicht übersehen werden. Und wenn nicht weggeschaut wird, insbesondere dann, wenn es uns einmal nicht so gut geht und wir uns nur noch als ein Häufchen Elend erleben.
Hagar, einer Frau in der Bibel, erging es einmal so. Als Sklavin wird sie so schlecht behandelt und gedemütigt, dass sie sich eines Tages zur Flucht entschließt. Dabei landet sie in der Wüste. Das war damals und ist auch heute eine lebensbedrohliche Situation. Doch die schwangere Hagar kommt nicht um, sondern erlebt auf wundersame Weise, dass Gott sie in der Einöde und Verlassenheit stärkt. Sie fühlt sich von Gott gesehen. Sie sagt: „Du bist ein Gott, der mich sieht!“
Diese Worte sind die neue Jahreslosung für 2023. In Anknüpfung an diese Worte wünsche ich uns allen für das neue Jahr immer wieder Begegnungen, in denen wir gesehen und wertschätzend wahrgenommen werden, in den beglückenden und schönen also auch in den leidvollen und schmerzhaften Momenten. Und: dass der eine oder andere Moment dabei sein möge, wo auch wir sagen können: Ja, Du bist ein Gott, der mich sieht!
Pfrin. Claudia Ginkel, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 09. Oktober 2022
Erfolgreich altern
„Erfolgreich altern“ - so lautet ein Forschungsprojekt an der Universität Göttingen, von dem ich kürzlich las.
Darin geht es um die Gestaltung des Alters in unserer deutschen immer älter werdenden Gesellschaft. Fakt ist: Wir wollen alle alt werden. Doch bitteschön, ohne zu altern. Wie aber soll das gehen? Das Älter werden können wir zwar nicht aufhalten, aber wir können es durch unsere Einstellung positiv beeinflussen, heißt es. Ergänzend dazu empfehle ich ein Gebet, das Theresa von Avila, der Mystikerin und Nationalheiligen Spaniens zugeschrieben wird:
„O Gott, Du weißt besser als ich, dass ich von Tag zu Tag älter und eines Tages alt sein werde. Bewahre mich vor der Einbildung, bei jeder Gelegenheit und zu jedem Thema etwas sagen zu müssen. Lehre mich, nachdenklich, aber nicht grüblerisch, hilfreich, aber nicht diktatorisch zu sein. Bei meiner ungeheuren Ansammlung von Weisheit erscheint es mir ja schade, sie nicht weiterzugeben – aber Du verstehst, o Gott, dass ich mir ein paar Freundinnen erhalten möchte. Bewahre mich vor Aufzählung endloser Einzelheiten und verleihe mir Schwingen, zur Pointe zu gelangen. Lehre mich schweigen über meine Krankheiten und Beschwerden. Sie nehmen zu – und die Lust, sie zu beschreiben, wächst von Jahr zu Jahr.
Ich wage nicht, die Gabe zu erflehen, mir die Krankheitsschilderungen anderer mit Freuden anzuhören, aber lehre mich, sie geduldig zu ertragen. Lehre mich die wunderbare Weisheit, dass ich mich irren kann. Erhalte mich so liebenswert wie möglich. Ich möchte keine Heilige sein – mit ihnen lebt es sich so schwer – aber eine alte Griesgrämin ist das Krönungswerk des Teufels. Lehre mich, an anderen Menschen unerwartete Talente zu entdecken, und verleihe mir, o Gott, die schöne Gabe, sie auch zu erwähnen.“
Mögen wir so alle – und mit einer gehörigen Prise Humor – „erfolgreich“ älter werden!
Pfrin. Claudia Ginkel, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 24. April 2022
Zeichen des Lebens entdecken
Mit dem Ostermontag ist Ostern nicht vorbei. 50 Tage lang feiert die Kirche die Osterzeit. Das heißt für uns Menschen: 50 Tage lang bis Pfingsten sind wir in besonderer Weise eingeladen, bewusst Zeichen des Lebens zu entdecken. Mitten in unserem Alltag. An jedem Tag neu. Das ist eine gute Übung gegen Resignation und Hoffnungslosigkeit.
Wie das gehen kann? Für mich zum Beispiel so: Einmal am Tag bleibe ich draußen stehen im Garten oder auf der Seewiese, höre aufmerksam dem Gesang eines Vogels zu und stelle mir vor: der singt auch für mich!
An einem Spielplatz oder vor dem Kindergarten halte ich einen Moment inne und schaue einem Kind zu, das in seinem Spiel ganz versunken ist und eins ist mit sich und der Welt.
Ich freue mich mit einem verliebten Pärchen, das mitten auf dem Bürgersteig anhält, sich umarmt und zärtlich küsst.
Der jüdische Dichter Schalom Ben-Chorin schreibt: „Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt, ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt? Dass das Leben nicht verging, soviel Blut auch schreit, achtet dieses nicht gering in der trübsten Zeit.“ Ich wünsche uns, dass wir viele gute Entdeckungen machen beim Suchen der Zeichen des Lebens!
Pfrin. Claudia Ginkel, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 20. November 2021
Ein Akt der Nächstenliebe
Am diesem Totensonntag verlesen wir im Gottesdienst die Namen aller, die im zurückliegenden Kirchenjahr verstorben sind und zünden eine Kerze für sie an. Wenn ich mich auf diesen Tag vorbereite, versuche ich mich an die Beerdigungsgespräche mit den Angehörigen eines verstorbenen Menschen zu erinnern und an das Leben, von dem mir erzählt wurde.
In besonderer Erinnerung habe ich in diesem Jahr einen Fall: Die Tumor-OP eines Mannes musste wegen der mit an Corona Erkrankten überfüllten Intensivstation eines Krankenhauses verschoben werden. In der Wartezeit verstarb er. „Würde es nicht so viele Ungeimpfte geben, würde mein Mann noch leben!“, klagt die Frau und ihre Wut darüber ist groß. Ich kann sie gut verstehen.
Die Frage steht im Raum, ob es fair ist, dass ungeimpfte und nun an Corona erkrankte Menschen anderen einen Platz wegnehmen. Die medizinisch-ethische Sicht, nach der die Krankenhäuser handeln, ist klar: Es gilt, keine Unterschiede zu machen. Kriterium für die Behandlung ist einzig und allein die Indikation, d.h. letztlich die Schwere der Erkrankung. Das ist richtig so.
Und dennoch: Wer Betroffenen wie dieser Frau begegnet und so hautnah Anteil an diesem Schicksal nimmt, dem kann die momentane und sich weiter zuspitzende Situation nicht egal sein, in der sich nach wie vor 30% Prozent der Bevölkerung nicht impfen lässt. Welche Gründe Ungeimpfte auch immer haben mögen, sie wollen gut abgewägt sein. Ich jedenfalls würde meines Lebens nicht mehr froh werden, würde ich als Ungeimpfte an Corona erkranken, auf die Intensivstation verlegt, damit eine dringende und notwendige OP eines anderen Menschen verhindern und so seinen Tod in Kauf nehmen. Sich impfen zu lassen ist für mich deshalb ein Akt der Solidarität und Nächstenliebe.
Pfrin. Claudia Ginkel, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 21. August 2021
Nichts mehr hinzuzufügen?
Ich begeistere mich für Sport. Mit großem Interesse habe ich die olympischen Spiele in Tokio verfolgt. In den Medien gab es bei den zweiwöchigen Wettkämpfen so manchen Aufreger. Da sorgte der Befehl der Trainerin der modernen Fünfkämpferinnen, das Pferd zu schlagen, damit es endlich los galoppierte, für Empörung. Da gab es die rassistische Entgleisung des Radfahrt-Sportdirektors, die nordafrikanischen „Kameltreiber“, die vor einem deutschen Radfahrer fuhren, endlich zu überholen.
Darüber hinaus aber gab es eine Szene, die völlig unbeachtet blieb, mich aber noch viele Tage danach sehr beschäftigt hat. Sie ereignete sich drei Tage vor Ende der Spiele nach dem Finale der 4 x 100 Meter Staffel der Frauen. Die deutschen Sprinterinnen liebäugelten mit der Bronze-Medaille, hieß es vorab. Dann begann das Rennen. Die Jamaikanerinnen gewannen wie erwartet, die Deutschen belegten dann aber nur Platz fünf. Nur etwa 2 Minuten später holte ein Reporter sie vor die Kamera und bat um eine „Fehleranalyse“. Noch außer Atem versuchte eine jede zu erklären, weshalb das Ziel „Bronze“ nicht geklappt hat. Als letzte sagte schließlich die enttäuschte, kein Blatt vor den Mund nehmende Gina Lückenkemper: „Das war Scheiße!“ Aufgeregt haben mich nicht diese schnörkellosen Worte der dreifachen deutschen Meisterin, sondern vielmehr der Kommentar, den der Reporter eines öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders daraufhin abgab: „Dem ist nichts mehr hinzuzufügen!“ Und damit beendete er das Interview. Ich saß fassungslos da. Tatsächlich? fragte ich mich. Wie wäre es mit: Respekt für den fünften Platz! Toll, dass ihr es ins Finale geschafft habt! Oder auch: Danke, dass ihr mit dafür gesorgt habt, dass das Rennen so spannend wurde! Ach, so viel mehr wäre doch noch hinzufügbar gewesen!
Ich hoffe und wünsche uns, dass wir es schaffen, in unseren Begegnungen wertschätzender miteinander umzugehen. Dass wir es würdigen können, wenn einer alles gibt, auch wenn er keinen Preis gewinnt. Dass wir nicht immer auf das Negative, sondern auf das Positive sehen.
Oder wie es der Apostel Paulus sagt: „Macht euch gegenseitig Mut und richtet einander auf!“ (1.Thessalonicher 5,11)
Pfrin. Claudia Ginkel, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 17. April 2021
Hier stehe ich und kann nicht anders!
Impuls zum 500. Jubiläum des Wormser Reichstags an diesem Wochenende
An diesem Wochenende vor 500 Jahren soll Martin Luther die berühmten Worte auf dem Wormser Reichstag gesprochen haben: "Hier stehe ich, ich kann nicht anders! Gott helfe mir. Amen!“ In der Traditionsgeschichte markiert dieses Statement den Beginn der Gewissensfreiheit und das Ende kirchlicher und staatlicher Obrigkeitsgläubigkeit.
Der Auftritt des einfachen Mönches von damals gilt bis in unsere Tage als beeindruckendes Beispiel für Zivilcourage. Gerne wird er deshalb von den unterschiedlichsten Gruppierungen für ihre Zwecke in Anspruch genommen. Als "Querdenker" jedoch lässt sich der Reformator sicher nicht vereinnahmen. Denn bei ihm verbinden sich nicht nur Gewissensmut, sondern auch Nächstenliebe.
Seine Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen" hält das auf bemerkenswerte Weise fest. Mit ihr prägt der Reformator das protestantische Verständnis eines Lebens in Freiheit und Verantwortung. Luthers These darin ist paradox: "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan". Das klingt widersprüchlich. Wie kann ein Mensch gänzlich frei und im selben Moment völlig abhängig sein von anderen?
Luther denkt sich das so: er unterscheidet zwischen einem inneren und einem äußeren Menschen. Der "innere Mensch" richtet sich auf Gott aus und erlangt so Freiheit im Glauben. Als leibliches Wesen ist der "äußere Mensch" jedoch zugleich auch Teil der Gemeinschaft und trägt Verantwortung für seine Mitmenschen. Innerer und äußerer Mensch bilden für Luther deshalb eine unauflösliche Einheit. In der Liebe zum Nächsten sind Christenmenschen dienstbar, im Glauben jedoch frei.
Das ist hochaktuell: Während der Corona-Pandemie erleben wir hautnah die Spannung zwischen persönlicher Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung. Als freiheitlich erzogene Individuen wollen wir unser Leben selbst führen und gestalten. Durch Virus-bedingte Regeln und Vorschriften jedoch wird diese unsere Freiheit nun aber begrenzt. Selbst privat können wir nicht einfach tun, wonach uns gerade der Sinn steht. Das ist ein massiver Eingriff in das Recht auf Selbstbestimmung.
Luthers These regt an, über das spannungsreiche Verhältnis eines selbst- bzw. fremdbestimmten Lebens ins Gespräch zu kommen. Was bedeutet es, wenn wir unsere persönliche Freiheit mit Rücksicht auf andere bewusst beschränken? Ich verzichte zugunsten von anderen. Freiheit braucht Verantwortung – auch heute.
Ohne Zweifel: Luthers Auftritt in Worms hatte es in sich!
Pfrin. Claudia Ginkel, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 9. Januar 2021
Antrieb
Wenn ich mit dem Auto auf der A 5 in Richtung Süden fahre, muss ich immer wieder nach den Flugzeugen schauen, die in Frankfurt landen. Es fasziniert mich, wie sich große, schwere Flugzeuge in Bewegung setzen, von der Erde abheben und fliegen können. Genauso beeindruckend ist für mich das Gefühl der Beschleunigung vor dem Start wie auch das Abbremsen bei der Landung. Dass das Reisen mit dem Flugzeug ökologisch oft nicht sinnvoll ist, steht auf einem anderen Blatt.Was treibt uns in unserem Leben an? Das ist nicht so klar wie beim Flugzeug. Es gibt verschiedene Antriebe in uns, die wir offen zeigen oder auch sorgfältig vor anderen verbergen: Anerkennung, das Wohl der Familie, Macht, die Liebe von anderen Menschen, Geld, sozialer Aufstieg, das Wohlergehen anderer Menschen, Spaß oder die Suche nach einem höheren Sinn im Leben. Wir haben auch Mischungen dieser Antriebe in uns.Im Römerbrief schreibt der Apostel Paulus, dass uns der Geist Gottes antreibe und bewege (Römer 8,17). Wir sind von Gott eingeladen, uns auf ihn einzulassen und uns von ihm bestimmen zu lassen. Das engt unser Leben nicht ein, sondern macht uns reich und gibt uns neue Kraft. Unsere genannten Antriebe erschöpfen uns manchmal, wenn wir nur aus ihnen heraus leben. Andere gehen zulasten anderer Menschen.Gottes Geist verbindet uns und ermöglicht, dass wir alle leben können, auch mit unseren menschlichen Antrieben. Er ist auch bei uns, wenn wir uns müde, schwach und leer vorkommen (Römer 8,26). Das bleibt Christen nicht erspart. Und doch führt er uns weiter. Ich wünsche uns ein gutes und gesegnetes Jahr 2021, in dem wir angetrieben durch den Geist Gottes auch die Einschränkungen durch Corona bewältigen können. Wir müssen ja nicht gleich von der Erde abheben wie die Flugzeuge in Frankfurt.
Pfr. Michael Solle, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Predigt zur Jahreslosung 2021
„Jesus Christus spricht: Seid barmherzig wie auch euer Vater barmherzig ist!“ (Lukas 6,36)
Das Jahr 2020 liegt hinter uns. Sicher werden wir Bilanz gemacht haben in den vergangen Tagen. Über das, was gut war und nicht gut war in dem von Corona geprägten Jahr. Das, was möglich war und uns unmöglich gemacht wurde. Was uns glücklich gemacht hat und was uns verzweifeln ließ. Und sicher gab und gibt es da auch den Blick auf unsere Beziehungen und den Blick auf die einen oder anderen Menschen, mit denen wir es zu tun haben, beruflich und privat, gewollt oder ungewollt. Fallen uns Begegnungen ein und Aufeinandertreffen, die es in sich hatten und haben. Und sicher steht uns dabei auch so mancher vor Augen, wo unser Urteil fest steht: Der hat sich als unfähig erwiesen. Die ist überheblich, der ist ein Nazi. Und die ist dumm und naiv.
Ja, wir Menschen sind immer wieder schnell dabei, über andere zu urteilen und sie dabei auch in unsere Schubladen zu stecken. Wir schauen sie durch unsere eigene, ganz spezielle Brille an. Wir machen uns ein festes Bild von ihnen, und das ist dann nicht mehr oder kaum mehr veränderbar.
Aber warum tun wir das? Warum urteilen und verurteilen wir so gerne? Was ist so attraktiv daran, andere in die Schublade meines Urteils zu stecken? Nun: wenn ich jemanden verurteile, dann halte ich ihn mir so vom Leibe. Dann stelle ich ihn in eine Ecke. Und wer er in der Ecke steht, der kann mir nichts mehr anhaben. Und vielleicht ist das ja nichts anderes als ein verzerrtes Spiel der Angst. Ich halte mir jemanden vom Leibe und tue es deshalb, damit ich nicht näher hinschauen muss. Denn wenn ich näher hinschauen würde, würde ich vielleicht etwas sehen, was mich an mich selbst erinnert. An meine Unsicherheit und mein Versagen. Wenn ich näher hinschauen würde, sähe ich vielleicht die Verletzlichkeit des anderen und spürte meine eigene. Sähe ich die Bitte um Anerkennung und würde darin meine eigene tiefe Sehnsucht nach Anerkennung finden, nach Beachtung und nach Liebe.
In unseren heutigen biblischen Worten zum Neuen Jahr ist vom Richten und vom Verdammen die Rede, vom Splitter im Auge des anderen und vom Balken, den ich selber vor Augen habe. Und in all diesem Hin- und Her sagt Jesus und seine Worte sind die Jahreslosung für das Neue Jahr 2021: „Seid barmherzig wie auch euer Vater barmherzig ist!“ Barmherzigkeit soll in besonderer Weise über diesem neuen Jahr stehen. Barmherzigkeit heißt ein Herz haben für andere und für sich selber. Und gerade letzteres halte ich für unabdingbar. Um ein Herz haben zu können für andere, muss ich mir selber gegenüber barmherzig sein.
Und wenn ich noch einmal darauf schaue, wie schnell wir und mit welcher Selbstgerechtigkeit wir oft dabei sind, über andere zu urteilen, stellt sich mir die Frage: Hat das nicht auch mit der Erbarmungslosigkeit zu tun hat, mit der wir uns oft selbst anschauen? Wie oft schauen wir auf uns mit unbarmherzigem Blick. Wie oft verurteilen wir uns selbst, weil wir nicht so sind, wie wir meinen sein zu sollen. Nicht erfolgreich genug. Nicht liebenswürdig genug. Nicht klug genug. Da haben wir wieder nicht geschafft, was wir uns vorgenommen haben. Sind den Ansprüchen nicht gerecht geworden, haben die nicht Vorgaben erfüllt und die Latte nicht übersprungen.
Ja, es ist ja auch dieser erbarmungslose Blick auf uns selbst, der uns so hart macht und auch dem anderen kein Erbarmen gönnt. Wie gut täte es deshalb, wenn wir es schafften, von diesem Richterstuhl herunterzuklettern. Wenn wir doch darauf vertrauen könnten, dass es einen anderen Blick auf unser Leben gibt als den kritischen Blick, den wir auf uns selbst werfen. Ach wenn wir uns doch den barmherzigen Blick Gottes auf unser Leben gefallen lassen könnten. Gottes barmherzigen Blick, der wie ein Wärmestrom ist, der mich erreicht, wenn ich vor Kälte zu zittern beginne. Wie ein Licht, das mich nach langen Tagen der Dunkelheit trifft, sodass ich innerlich hell werde. Wie ein lang angehaltener Atem, der wieder zu strömen beginnt.
Und diese Barmherzigkeit, sie wird nicht ausgeteilt nach der Rechnung Eins zu Eins. Da wird nicht berechnet und nicht geknausert. Sie vergisst jedes Zählen und Berechnen und Abwägen. Sie ist im besten Sinne maßlos, die Barmherzigkeit Gottes. Wer darauf vertraut, für den wird jedes kleinliche Abrechnen mit den anderen unmöglich. Wer darauf vertraut, kann selber großzügig werden. Wer darauf vertraut, nimmt den anderen neu in den Blick. Lässt Begegnung zu, setzt sich aus. Lässt sich überraschen.
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist! Mögen diese Worte uns in diesem neuen Jahr 2021 immer wieder Anregung und Maßstab sein für das Zusammentreffen mit anderen und mit uns selbst und mit Gott. Amen.
Pfrin. Claudia Ginkel, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Predigt zu Heiligabend 2020
Stille Nacht! Ja, still ist es dieses Weihnachten 2020. Das große Zusammenkommen in der Familie ist gestrichen. Viele verbringen den Heiligabend alleine oder nur im engsten Kreise zuhause. In den vergangen Tagen gab es wegen des Corona-bedingten Lockdowns nicht mehr den gewohnten großen Trubel mit dem Einkaufen letzter Geschenke auf unseren Straßen wie sonst. Und in unseren Kirchen hier in Friedberg feiern wir in diesem Jahr keine Präsenz-Gottesdienste, in denen sich zu normalen Zeiten an Weihnachten über 2000 Menschen einfinden und am Ende alle gemeinsam aus vollem Herzen o du fröhliche singen.
Nein, dieses Jahr gilt: Stille Nacht! Und vielleicht ist gerade dieses Lied das passende für unser Weihnachten heute. Stille Nacht! Heilige Nacht! Es gibt viele, die rümpfen die Nase über dieses Lied, finden es kitschig und textlich und musikalisch ungenügend. „Eine triviale, wertlose, verfehlte Komposition“, hat ein Domkapellmeister aus Mainz einmal geurteilt. Für andere dagegen ist dieses Lied, dass das erfolgreichste Weihnachtslied weltweit ist und in über 300 Sprachen übersetzt wurde, der Inbegriff von Weihnachten schlechthin.
Stille Nacht ist ein Sehnsuchtslied. Es besingt die Sehnsucht nach Geborgenheit, Zusammenhalt, Sich-aufgehoben-Wissen bei Vater und Mutter, Geschützsein, nach einer glücklichen, frohen Kindheit: „… einsam wacht nur das traute, hochheilige Paar“, heißt es darin oder auch: Gottes Sohn, o wie lacht Lieb aus deinem göttlichen Mund“. Zu Weihnachten und zu unserem Glauben gehört das dazu: Nicht nur unser Verstand und unser Denken will angesprochen sein, sondern unser ganzer Mensch. Unsere Gefühle und unsere Seele. In der Tiefe wollen wir berührt werden.
Stille Nacht. Ja, Stille braucht es, damit die Weihnachtsworte unsere Herzen erreichen. Ein Innehalten, ein zur Ruhe kommen braucht es, damit die Worte des Weihnachtsengels „Fürchtet euch nicht“ bei mir ankommen und sich auswirken und entfalten können. Stille braucht es, damit Gott in uns eintreten kann.
Stille Nacht. Still hat auch mit Stillen zu tun. Eine Mutter stillt ihr Kind, wenn es schreit und bringt es so zur Ruhe. Wenn es still wird, wenn ich still werde, dann kann sich in mir all das melden und zeigen, was gestillt werden will und was ungestillt ist. Und vielleicht wird gerade dieses Weihnachten für uns zu solch einer besonderen Stillzeit. Eine Stillzeit, in der mir bewusst wird, was ich für mein Leben brauche und was ich vermisse und vielleicht auch, was ich nicht mehr brauche und unnötig ist oder geworden ist.
Fürchtet euch nicht. Siehe ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.
So lautet die Weihnachtsbotschaft in unseren Corona-Zeiten. In allem, was ungestillt ist in uns und unter uns und in dieser Welt sind das die Worte Gottes an uns: Fürchtet euch nicht! Lasst euch nicht lähmen, erstarrt nicht. Lasst euch nicht von der Angst beherrschen. Lasst die Hoffnung nicht fahren. Lasst euch nicht unterkriegen. Denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr.
Der Heiland ist geboren. Unser Stille-Nacht-Lied sagt es so: Christ, der Retter ist da. Er ist da! Nicht in dem Sinne, dass sich von nun auf gleich die Erde in einen Himmel verwandeln würde, auch wenn wir uns genau das, den Himmel auf Erden immer wieder wünschen. Aber etwas ist eingebrochen vom Himmel auf unsere Erde. Der Heiland ist geboren. Christus, der Retter ist da! Als Licht, als Kraft, als Zeichen der Hoffnung.
Er ist da wie ein Geschenk, das ich zur Bescherung überreicht bekomme und das darauf wartet, ausgepackt zu werden. Das angeschaut und angefasst und berührt und geöffnet werden will. Ein Geschenk, in dem ich die Liebe Gottes entdecken darf und kann, die so groß ist, dass sie den Himmel verlässt, ihn einen Spalt öffnet und sich menschlich macht, für uns zum Menschen macht.
Die Stille Nacht, liebe Gemeinde, wird zur heiligen Nacht, wenn ich mir diese Liebe Gottes gefallen lasse. Wenn ich in diesem Kind den Heiland entdecke, der auch für mich geboren ist. Der mir zum Heiland werden will mit all dem Ungestillten in meinem Leben und mit all dem Ungestillten in unserer Welt. Der mir zum Heiland werden will in meiner Einsamkeit, zum Heiland für meine verletzten und zerbrochenen Beziehungen, zum Heiland im Umgang mit all den mich umtreibenden Ängsten, zum Heiland, der Frieden verheißt und Versöhnung stiften will zwischen den Menschen und den Völkern auf dieser Erde.
Mit Christus, mit dem Kind in der Krippe zeigt sich uns Gott selbst und sagt: Ich bin da! Ich kehre euch nicht den Rücken zu und lasse euch nicht im Stich. Ihr seid mir nicht egal, ich gebe euch nicht auf. Ich lasse die Welt nicht über euch zusammenbrechen.
Ja, dieses Weihnachten 2020 ist anders als Weihnachten sonst ist. Das große Fest, bei dem Familien und Freunde zusammenkommen, junge Menschen sich im Anschluss am späten Abend auf den Plätzen der Stadt treffen und feiern, zu dem wir in unseren Kirchen singen und Orgel, Flöten, Geigen erklingen, es sieht dieses Jahr anders aus. Aber das, was wir an Weihnachten feiern, das steht, das bleibt und das fällt nicht aus. Weder das Corona-virus noch irgendein anderes, kein Übel der Welt, und mag es noch so verheerend und zerstörerisch sein, kann Gott davon abhalten in unsere Welt zu kommen. Im Gegenteil: gerade das Dunkel in unserer Welt ist es, das ihn dazu bringt, den Himmel zu verlassen und zu öffnen, damit Licht durchdringt. Damit das Dunkel erhellt wird. Damit wir Licht sehen. Hören wir diese Botschaft in diesem Jahr einmal ganz bewusst in der Stille. Lassen wir sie stark werden in uns: Fürchtet euch nicht! Siehe ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird, denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Möge so diese Stille Nacht für uns zu einer Heiligen Nacht werden.
Ich wünsche uns allen ein Frohes und Gesegnetes Weihnachtsfest!
Pfrin. Claudia Ginkel, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Impuls ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 28. Dezember 2020
Stilvolle Weihnachten gefeiert?
Letzte Woche fiel mir ein Prospekt eines Herrenausstatters in die Hände. „Stilvoll unterm Weihnachtsbaum“ war er überschrieben.
Darauf ein attraktiver Silver Ager, das Gesicht braun gebrannt, mit einem weißen, eleganten, enganliegenden Hemd gekleidet, unter dem sein muskulöser Oberkörper gut zu erkennen war. Sein grau-meliertes Haar dicht und voll. Ja, er sah gut aus unterm Weihnachtsbaum.
Ob es bei uns auch gut aussah unterm Weihnachtsbaum? Ob alles gut gegangen ist in den zurückliegenden Tagen mit den Corona-Beschränkungen und dem Feiern im kleinen Kreis? Ob wir die Geschenke annehmen konnten, die vielleicht anders ausgefallen sind, weil das Gewünschte wegen des Lockdowns nicht mehr zu bekommen war? Ob wir es ausgehalten haben ohne Christmette in der Kirche?
Ohne Zweifel: dieses Weihnachten war anders als sonst! Aber vielleicht war und ist dieses Weihnachten gerade so viel näher dran an dem, was wir mit dem Christfest eigentlich feiern. Nicht in das Makellose, Schicke und Stilvolle kommt Gott mit seinem Sohn Jesus Christus, nicht in das, was glänzt und leuchtet und strahlt. Bewusst wählt er das Erbärmliche. Es steht uns mit dem armseligen Stall und der Futterkrippe für Tiere, in die das Neugeborene gelegt wird, überdeutlich vor Augen. Weihnachten ist also ein ziemlich erbärmliches Fest, weil Gott sich unser erbarmt. Möge etwas von diesem weihnachtlichen Erbarmen, von seinem Frieden und Licht, das mit Christus in unsere Welt gekommen ist, für uns spürbar werden und nachklingen, auch in den kommenden nachweihnachtlichen Tagen.
Pfrin. Claudia Ginkel, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Impuls ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 27. November 2020
Pech? Glück? Wer weiß?
Corona hat unser gewohntes Leben gehörig durcheinandergebracht. Vieles, was bisher selbstverständlich zu unserem Alltag dazugehörte, ist jetzt anders. Die Abende verbringen wir zuhause, weil Theater und Kinos geschlossen sind. Der Wochenendbesuch bei den Großeltern fällt aus, weil Enkelkinder das ansteckende und tödliche Virus mitbringen könnten. Und nicht nur auf der Arbeit mit den Kollegen, sondern auch in der Freizeit mit Freunden sehen wir uns in Video-Sitzungen nur noch digital von Auge zu Auge.
Viele Veränderungen, die Corona mit sich bringt, sind nicht schön und beklagen wir mit Recht! Doch wer weiß, vielleicht sehen wir manches davon in ein paar Jahren anders. So wie es der alte Bauer in einer chinesischen Geschichte tut: sein Pferd, das er für die Feldarbeit einsetzte, entfloh eines Tages. Als die anderen Bauer sein Pech bedauerten, fragte er: Pech? Glück? Wer weiß?
Eine Woche später kehrte das Pferd mit einer Herde Wildpferde aus den Bergen zurück. Diesmal gratulierten ihm die Nachbarn wegen seines Glücks. Doch seine Antwort lautete: Glück? Pech? Wer weiß? Als der Sohn des Bauern versuchte, eines der Wildpferde zu zähmen, wurde er abgeworfen und brach sich ein Bein. Alle hielten das für großes Pech. Nicht jedoch der Bauer, der nur sagte: Pech? Glück? Wer weiß? Wenig später marschierte die Armee ins Dorf und zog alle tauglichen Männer ein. Als sie den Bauernsohn mit seinem gebrochenen Bein sahen, ließen sie ihn zurück.
Nicht vorschnell zu beurteilen, was vermeintlich gut oder nicht gut, was Pech oder Glück ist, resultiert aus einem erfahrungsreichen Leben. Manches Dunkle hellt sich mit der Zeit auf und manches Helle verdunkelt sich. Dietrich Bonhöffer hat diese Erfahrung aus christlicher Perspektive einmal so gedeutet: Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein gutes Durchkommen!
Pfrin. Claudia Ginkel, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 8. August 2020
Weg des Friedens
In diesen Tagen, am 6. und 9. August 1945, haben die Amerikaner die ersten Atombomben über die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki abgeworfen. Sie hießen „Little Boy“ und „Fat Man“. Die Explosionen töteten insgesamt rund 100.000 Menschen. Sofort. Sie verglühten. Bis Ende 1945 starben an den Folgeschäden weitere 130.000 Menschen. In den Jahren danach kamen Tausende hinzu. Viele Menschen leiden bis heute an den Spätfolgen der Strahlung. Die Rate der an Krebs Erkrankten und der Geburten von missgebildeten Kindern ist weiterhin überdurchschnittlich hoch.
In diesen Tagen erinnern wir uns an die grausamen Ereignisse vor 75 Jahren. Wer sich den Schrecken und das Leiden, die der Krieg mit sich gebracht hat, vor Augen führt, der kann nicht wollen, dass sich solche Szenarien wiederholen. Und gerade Christen sind gefragt, der Botschaft Jesu vom Suchen des Friedens nachzukommen und nicht noch einmal zuzulassen, dass ein großer Teil der Kirche zur Mitläuferin wird und die Stimme gegen das Unrecht kaum merklich erhebt. „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“, lautete deshalb das klare Bekenntnis der Kirchen in Amsterdam 1948 als Konsequenz aus dem Zweiten Weltkrieg.
Was aber heißt das konkret heute? Ich denke eine wache, wachsame und, ja, auch widerständige Haltung ist vonnöten. Etwa da, wo militärischen Lösungen vor ziviler Konfliktberatung das Wort gesprochen wird. Sie ist da vonnöten, wo unser Land als einer der größten Rüstungsexportnationen dieser Welt Waffen auch in Krisengebiete liefert. Gerade die Rüstungsexporte zeigen: Wir können nicht die Kriege dieser Welt beklagen und die Menschen, die aus diesen Kriegen zu uns flüchten abweisen - und gleichzeitig verdient unsere Wirtschaft an genau diesen Kriegen. Das passt nicht zusammen.
Mehr als 13.000 Atomwaffen gibt es noch immer auf der Welt. Im Friedenspark von Hiroshima gibt es eine Flamme, die erst erlöschen soll, wenn die letzte Atombombe vernichtet worden ist. Mögen die Bemühungen aller, die sich für Abrüstung und Frieden einsetzen, gesegnet sein. Möge Gott unsere Füße auf den Weg des Friedens lenken.
Pfrin. Claudia Ginkel, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Impuls ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 4. Juni 2020
Noch verhüllt?
Der Verpackungskünstler Jean-Claude Christo ist am Pfingstsonntag gestorben. Vielen ist er durch seine Verhüllung des Berliner Reichstages 1985 mit silberfarbener Folie in Erinnerung. Eine Inszenierung, die damals keinen unbeteiligt gelassen hat. Die einen haben das Werk begeistert gefeiert, andere haben darüber den Kopf geschüttelt. Ich habe seine Projekte immer fasziniert und mit großem Interesse verfolgt. Sein Tod ist ein Verlust in der Kunstwelt.
Den „Brauch des Verhüllens“ gibt es auch in der Kirche. In der katholischen Tradition wird das Altarkreuz zwei Wochen vor Karfreitag verhüllt. Die Idee dahinter ist, unser Wahrnehmen neu einzuüben. Unsere Aufmerksamkeit auf Dinge, an die wir uns gewöhnt haben, wiederzugewinnen. Es klingt paradox, aber das ist die Erfahrung vieler: Durch das Verhüllte kann Unsichtbares, Übersehenes, Gewohntes neu entdeckt und ins Bewusstsein gehoben werden.
In gewisser Weise haben wir das auch im zurückliegenden Shutdown erlebt. Das, was uns entzogen wurde, was uns nicht mehr zur Verfügung stand an bislang selbstverständlichem gesellschaftlichem und kulturellem Leben, das haben wir geprüft und bewertet. Auf neue Weise haben viele von uns sich gefragt, was fehlt und was nicht. Was für uns verzichtbar und was unverzichtbar ist. Vieles davon ist sozusagen immer noch in Bewegung und im Prozess. Wie die Nach-Corona-Auszeit aussieht und was sich durch sie alles für uns verändert haben wird, ist noch nicht ausgemacht, ist also noch verhüllt. Es bleibt also spannend.
In einem Weihnachtslied des Lieddichters Dieter Trautwein findet sich dazu ein weiterer Gedanke: „Weil Gott in tiefster Nacht erschienen, kann unsere Nacht nicht traurig sein. Er sieht dein Leben unverhüllt, zeigt dir zugleich dein neues Bild.“ Nicht nur Dinge lassen sich verhüllen, auch wir Menschen tun es. Wir verhüllen uns, geben uns bedeckt, ja, manchmal ziehen wir uns auch eine Rüstung an, um nicht zu zeigen, wie es in uns aussieht. Christus zeigt uns ein neues Bild von unserem Menschsein. Er hat deutlich werden lassen, dass wir die Erfüllung unsers Lebens nicht in Verhüllung und Abgrenzung finden, sondern in Nähe und Gemeinschaft, in Frieden und Gerechtigkeit, in Heil und Heilung unserer Beziehungen untereinander und zu Gott finden. Vielleicht lässt auch dies sich in diesen Zeiten neu entdecken und wertschätzen und ins Bewusstsein heben.
Pfrin. Claudia Ginkel, Evangelische Kirchengemeinde Friedberg
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Impuls ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 11. Mai 2020
47 Kinder
47 Flüchtlingskinder sind vor zwei Wochen mit einem Flugzeug in Hannover gelandet. Im Fernsehen wurde diese Nachricht als eine der ersten gebracht. Die Maschine kam aus Athen. Die syrischen und afghanischen Kinder stammen von den überfüllten Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln und haben dort über Monate ohne Eltern und ganz allein auf sich gestellt dort ausgeharrt. Es ist gut, dass sie jetzt hier sind und medizinisch versorgt und menschenwürdig betreut werden.
Nicht nur mich, sondern sicher auch viele andere wird es aber merkwürdig berührt haben, wie diese Wohltätigkeitsmaßnahme nach monatelangem Ringen und Diskutieren inszeniert wurde: 47 Kinder! Im Verhältnis zu den 14.000 anderen, die weiterhin in den griechischen Lagern festgehalten werden und angesichts der knapp 11 Millionen Kinder, die es in Deutschland gibt, ist diese Zahl beschämend.
Nicht ohne Grund sprechen manche deshalb auch von einer „Feigenblattaktion“. Als Folge darauf hat unsere evangelische Landeskirche jetzt zusammen mit vielen Wohlfahrtsverbänden einen Appell an unsere hessische Landesregierung gestartet, jährlich mindestens 1500 verletzliche Flüchtlinge, womit insbesondere Kinder und Kranke gemeint sind, dauerhaft aufzunehmen. Das müsste doch zu schaffen sein.
Pfrin. Claudia Ginkel, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Impuls ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 16. April 2020
Gerechtigkeit
Hat man viel, so wird man baldNoch viel mehr dazubekommen.Wer nur wenig hat, dem wirdAuch das wenige genommen.Wenn du aber gar nichts hast,Ach, so lasse dich begraben -Denn ein Recht zum Leben, Lump,Haben nur, die etwas haben.Das kleine Gedicht von Heinrich Heine erinnert mich an eine Wahrheit, die im Moment bitter zu Tage tritt. Wer eine Rente oder ein festes Einkommen bezieht, erlebt keine Überraschung – wir kaufen anders ein, aber wir müssen auf nichts verzichten. Wer Geld in Aktien angelegt hat, erlebt eine temporäre Flaute, nicht mehr. Wer gerade seine Wohnung verloren hat, wer von Kurzarbeitergeld die Familie ernähren muss, wessen Arbeitsvertrag gekündigt wurde, wer keine Familie im Hintergrund hat, erlebt diese Zeit anders. Alles muss verhandelt werden. Dass die Wohnung nicht gekündigt wird, dass irgendwoher Überbrückungsgeld kommt, dass der Job nach der Krise wieder aufgenommen werden kann. Und dann erfahren wir von denen, die gar nichts haben. In Indien unangekündigte Ausgangssperre. Millionen von Tagelöhner sind ohne jegliche Einkünfte und weit entfernt von ihren Familien. Jetzt beginnt die Hitzewelle, Wasser ist rar. Im Mittelmehr haben die Europäischen Regierungen am Tag der Auferstehung die Schlauchboote untergehen lassen, das erfahren wir von der Aktion „Alarm phone“, ist aber in den Nachrichten kaum eine Zeile wert. In den Lagern von Lesbos, Chios, Kos, Leros und Samos ist auch an Ostern nichts zur Rettung geschehen. Das ist zum Verzweifeln!
Wer privilegiert ist, bleibt es. Wer gerade so über die Runden kommt, wird es jetzt irgendwie schaffen. Und wer nichts hat, bleibt auf der Strecke. Wollen wir nicht endlich anfangen, anders zu leben?
Pfrin. Susanne Domnick, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Predigt ∙ Ostersonntag 2020
Markus-Evangelium 15, 25-39
Als der Sabbat vergangen war, kauften Maria Magdalena und Maria, des Jakobus Mutter, und Salome Spezerei, um Jesus zu salben. Und sie kamen zum Grabe am ersten Tag der Woche sehr früh, da die Sonne aufging. Sie sprachen untereinander: Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür? Als sie dort waren, sahen sie, dass der Stein weggewälzt war; denn er war sehr groß. Sie gingen hinein in das Grab und sahen einen Jüngling zur rechten Hand sitzen, der hatte ein langes weißes Kleid an; und sie entsetzten sich. Er aber sprach zu ihnen: Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten; er ist nicht hier. Siehe da ist die Stätte, wo sie ihn hinlegten! Gehet ihr aber und sagt's seinen Jüngern und Petrus, dass er vor euch hingehen wird nach Galiläa, da werdet ihr ihn sehen, wie er gesagt hat.
Christus ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden! Christos anesti! Aleitos anesti! So rufen die griechischen und viele anderen Christen bis heute: Nicht im Tod geblieben! Aufgestanden ins Leben!
Dieses Jahr ist Ostern der Härtetest. Auferstehung findet statt! Ob wir das glauben oder nicht. Auch wenn wir auf unsere Gewohnheiten verzichten müssen. Auch wenn uns die Schreckensbilder in besonderer Weise im Tod halten wollen. Christus ist auferstanden… nicht ein bisschen und nicht nur für einen sonnigen Moment. Vielleicht können wir mitten in dieser Corona-Zeit sogar neu verstehen, was es mit der Auferstehung auf sich hat: Wie es ist, von jemand zu wissen, den wir nicht sehen können. Wie es sich anfühlt, auf ein reales Zusammentreffen zu warten. Wie unsicher es ist, ob wir uns wieder unbefangen umarmen können?
Vielleicht gewinnen wir ein neues Verständnis von Auferstehung: Zwischen dem realen Verlust und einer neuen Art der Verbundenheit, so wie die Jüngerinnen und Jünger Jesu es erfahren haben.
Während der Militärdiktatur in Lateinamerika wurde jeden Ostermorgen eine Liste mit Namen vorgelesen, die bedrückende Liste mit Namen von Menschen, die getötet wurden oder verschwunden sind. Nicht einmal ein Grabstein soll an sie erinnern. Aber sie sind nicht ausgelöscht, Name um Name erklingt in der Kirche. Und auf jeden Namen antwortet die ganze Gemeinde im Chor: Presente!
Presente! das heißt: ist da, ist anwesend, ist hier unter uns. Nicht ausgelöscht, nicht vergessen, nicht durchgestrichen. Presente, lebendig! Jesus Christus: presente! Sie haben ihn gefoltert und ans Kreuz gehängt, aber was er begonnen hat, lässt sich nicht löschen. Am Ostermorgen breitet sich die Nachricht von ihm aus. Wenn sie euch sagen, ich sei tot, glaubt ihnen nicht. Jesus presente, rufen die Frauen und Männer am Ostermorgen und es wurden immer mehr.
Am Ostermorgen finden wir Kraft, der Trauer, der Einschüchterung, der Angst zu trotzen. Jesus presente. Der Geist der Auferstehung ist auch bei uns lebendig! Gott ruft uns ins Leben. Hier auf dem Altar steht eine Christusfigur, die dem Tod schon entstiegen ist. Die Arme hat er ausgebreitet, jubelnd und segnend zugleich. Das Kreuz bleibt, aber das Leben ist stärker. Die Enden seines Gewandes wehen, Gottes Geist weht Hoffnungslosigkeit und Lähmung weg. Presente! Das wird auch nach jedem unserer Namen stehen und stehen bleiben! Presente! So wahr Jesus lebt!
Hineingezogen in die Auferstehung rufen wir heute an diesem Ostermorgen 2020 die, die der Tod nicht auslöscht:
Die Kinder, die Eltern, die Enkel, die Freund*innnen, die wir nicht treffen können
Dennys Familie in El Fayoum
Ifrahs Familie in Adis Abeba
Abdis Familie in Jijiga
Lokmans Familie in Idlib! Presente!
Shean, der 12 Jahre alt ist und auch heute wieder Angst vor seinen Eltern hat
Tom und alle, die ihr altes Leben hinter sich lassen
Elfriede Böhmer und Klaus Wicke und alle Verstorbenen, die wir lieben und vermissen
Presente!
Ferhat Unvar
Mercedes Kierpacz
Sedat Gürbüz Presente!
Gökhan Gültekin
Hamza Kurtovic´
Kalovan Velkov Presente!
Vili Viorel Paun
Said Nesar Hasehmi
Fatih Saracoglu
Gabriele Ratjen
Tobias Ratjen Presente!
Jemand wie ich, die keine Ahnung hat wie es ist, wenn die Soldaten kommen um dich zu holen
Jemand wie ich, die keine Ahnung von Hunger und Durst und Kälte hat Presente!
50.000 Geflüchtete, Erwachsene und Kinder in den Lagern auf Lesbos und Chios und Leros und Kos und Samos , die auch heute nicht abgeholt werden und gerettet werden
Presente!
Jemand wie ich, die ich gewaltsame Tode nur aus dem Fernsehen kenne.
Jemand wie ich, die voller Erschrecken den Transport der Särge sieht. Presente!
Die Toten von Bergamo bis New York, von Venezuela bis China Presente!
Und die, die Tag und Nacht und weltweit Hilfe leisten, weit über ihre persönlichen Grenzen hinweg
Die, die sich für das Leben einsetzen! Presente!
Der Herr ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden!
Fürbitte haben wir gehalten
stellvertretend für die Geflüchteten, die in Friedberg leben,
und die Menschen, die seit 2014 in Friedberg Kirchenasyl gefunden haben
stellvertretend für Kinder in familiären Gewaltverhältnissen,
für Menschen, die außerhalb der bipolaren Geschlechterordnung leben
und für Verstorbene
für die 10 Opfer und den Täter des Attentats von Hanau vom 19.2.2020
für uns in unserem Mitgefühl und Sorge
für die Verstorbenen und Kranken im Zusammenhang der Pandemie
und für alle Menschen, die in Medizin und Pflege tätig sind.
Pfrin. Susanne Domnick, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Kurzpredigt für Karfreitag
Markus-Evangelium 15, 25-39
Und es war die dritte Stunde, als sie ihn kreuzigten. Und es stand über ihm geschrieben, welche Schuld man ihm gab, nämlich: Der König der Juden. Und sie kreuzigten mit ihm zwei Räuber, einen zu seiner Rechten und einen zu seiner Linken. Und die vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe und sprachen: Ha, der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir nun selber und steig herab vom Kreuz! Desgleichen verspotteten ihn auch die Hohenpriester untereinander samt den Schriftgelehrten und sprachen: Er hat andern geholfen und kann sich selber nicht helfen. Ist er der Christus, der König von Israel, so steige er nun vom Kreuz, damit wir sehen und glauben. Und die mit ihm gekreuzigt waren, schmähten ihn auch. Und zur sechsten Stunde kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. Und zu der neunten Stunde rief Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Und einige, die dabeistanden, als sie das hörten, sprachen sie: Siehe, er ruft den Elia. Da lief einer und füllte einen Schwamm mit Essig, steckte ihn auf ein Rohr, gab ihm zu trinken und sprach: Halt, lasst sehen, ob Elia komme und ihn herabnehme! Aber Jesus schrie laut und verschied. Und der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus. Der Hauptmann aber, der dabeistand, ihm gegenüber, und sah, dass er so verschied, sprach: Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!
Steig doch herab vom Kreuz! Das rufen die Peiniger Jesus zu. Steig doch herab vom Kreuz! Mach doch dem Leid ein Ende! Die Worte, die mit dem Ton des Verspottens und Lästerns daherkommen, würde vielleicht heute mancher von uns mit bitterem Ernst und Flehen ausrufen. Dass endlich Schluss sei mit dem Kreuz, mit dem Leid, das der Covid-19-Virus mit uns Menschen macht und in aller Welt anrichtet. Dass endlich Schluss sein möge mit den Nachrichten, die uns die neuesten Zahlen der Corona-Toten bei uns und in Europa und in aller Welt zeigen. Dass endlich Schluss sein möge mit den Bildern von unzähligen Särgen, die in Eissporthallen in Spanien auf ihren Abtransport warten. Dass endlich wieder Normalität einkehrte, die Geschäfte hier auf der Kaiserstraße wieder öffneten, die älteren Menschen sich wieder nach draußen trauten und Kinder auf der Seewiese wieder miteinander spielen könnten.
Steig doch herab vom Kreuz! Mach doch dem Leid ein Ende! Doch Jesus steigt nicht herab vom Kreuz. Er hält das Kreuz aus. Er hält den Schmerz aus. Die Pein und seine Peiniger. Die grinsenden und grölenden Fratzen. Und: Er hält die Einsamkeit aus. Von seinen Jüngern, von seinen Freunden findet sich nach dem Bericht des Markus keine Spur, alle sind sie geflohen vor dem Schrecken, vor der Barbarei. Nur einige Frauen schauten von der Ferne zu, heißt es. Keiner der Vertrauten Jesu also ist mehr da in unmittelbarer Nähe. So wie zurzeit bei uns in den Pflege- und Altenheimen, die in den vergangenen Wochen abgeschottet wurden, in die niemand mehr hineindarf. Angehörigen, Kindern ist es verboten, ihre kranke und sterbende Mutter oder den kranken und sterbenden Vater zu besuchen und auf dem letzten Weg zu begleiten. Was für ein bitteres Sterben, was für ein bitterer Tod ist das.
Jesus hält das Kreuz aus. Er hält die Finsternis aus, die sich über das ganze Land gelegt hat. Er hält die Gottverlassenheit aus. Und er tut das und er erträgt das alles bis zum letzten aushaltbaren Moment für uns. Um uns nahe zu sein und zu kommen.
Mit Jesus Christus und mit diesem Karfreitag glauben wir Christinnen und Christen nicht an einen abgehobenen Gott, an einen, der von Ferne dem Treiben der Menschen zuschaute und dem das alles nichts anginge und nicht anrührte. Sondern mit diesem Karfreitag glauben wir an einen Gott, der sich selbst in Jesus Christus den Menschen hingibt und sich an ihre Seite stellt und begibt bis in das Sterben und in den Tod hinein. Und der uns damit deutlich macht und zeigen will: du bist nicht alleine in diesem deinem Leid. Gott ist bei dir. Er kennt das Leid. Er hat es am eigenen Leib erfahren und durchlitten und durchstanden.
So will uns das Kreuz zu Trost und Halt werden. Mit ihm können und sollen wir das, was uns in diesen Zeiten niederdrücken will, trotzen. Trotzen, weil wir glauben, dass das Kreuz und der Tod nicht das Ende sind. Es wird Ostern werden. Wir werden Auferstehung feiern. Das Leben wird siegen. Amen.
Pfrin. Claudia Ginkel, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Impuls ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 4. April 2020
Die Sinne öffnen
In diesen Zeiten starren wir auf das Corona-Virus wie das Kaninchen auf die Schlange. Es bestimmt uns und hält uns in Beschlag wie nichts anderes. Da tut es gut, unser Wahrnehmen zu weiten und unsere Sinne für andere Erfahrungen zu öffnen. Eine für mich ans Herz gewachsene Übung ist diese: Ich gehe für eine halbe Stunde ins Freie in den Garten oder einen anderen ungestörten Ort. Ich lasse alles Denken und Beurteilen zurück und nehme nur wahr. Ganz bewusst nehme ich wahr, was ich alles sehen, hören, riechen und tasten kann. Eine Zeit höre ich nur, erst auf das Lautere, dann auf das Leisere. Eine weitere Zeit schaue ich nur, erst auf das Auffällige und dann auf das Unauffälligere. Ich ertaste Hartes wie die Rinde eines Baumes und Zartes wie ein gerade erst aufgegangenes Blütenblatt. Ich versuche Gerüche wahrzunehmen und Kälte oder Wärme auf meiner Haut. Mich erfüllt diese Übung immer aufs Neue mit großer Dankbarkeit für die Fülle des uns geschenkten Lebens auch und gerade in diesen Zeiten, in denen für viele von uns das normale Leben still steht.
Pfrin. Claudia Ginkel, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Impuls ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 1. April 2020
Atemholen im Shutdown
Wir leben in einer atemlosen Gesellschaft, wir erwarten ständiges Wachstum und haben absurde Ideen wie wir zu funktionieren haben. Jetzt ist Pause angesagt. Alles wird runtergefahren. Das Klima atmet auf. Die Erde atmet auf. Unser Leben entschleunigt sich radikal. Wir legen jetzt eine gesellschaftliche Atempause ein. Das kann gut tun. Der Atemnot begegnen wir mit ruhigem Atem, mit tiefem Atmen. Wir können das Atmen jetzt neu lernen. Zwischen Ein- und Ausatmen ist immer eine Pause. Atmen, das tun wir eigentlich gar nicht, wir lassen es geschehn. In der hebräischen Sprache ist das Wort für Atem und Seele dasselbe. Auch die Seele braucht Pause, Stillstand, Ausruhen, Atemholen, damit sie sich entfalten kann.
Pfrin. Susanne Dommnick, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 19. Oktober 2019
Der schönste Tag
Die Hochzeitssaison ist vorbei. Ganz unterschiedliche Paare habe ich in diesem Sommer getraut. Unter ihnen gab es eine Chinesin, eine Discounterverkäuferin, einen Sportakademiebesitzer und einen LKW-Fahrer. Mit allen habe ich vorab ein Gespräch geführt. Manches, was mir erzählt wird, bewegt mich im Nachhinein noch sehr. Da ist das Glück einen Partner fürs Leben gefunden zu haben, an das man nach vielen Enttäuschungen schon nicht mehr geglaubt hatte. Da ist das Paar, das schon über 60 Jahre alt ist, und einen „zweiten Frühling“ erlebt. Da sind schwierige familiäre Verhältnisse, aus denen sich zwei Menschen lösen konnten und die nun hoffen, es besser zu machen.
Nebenbei verfolge ich mit Interesse auch die neueren Entwicklungen des „wedding planning“. Immer mehr Paare wollen nichts dem Zufall überlassen und planen mithilfe einer Agentur das große Ereignis. Fotograf, Hochzeitskleider, Essen, die passende location - all das kostet richtig viel Geld. 10.000 bis 15.000 Euro kostet heute durchschnittlich eine Hochzeit.
Dann kommt der Gottesdienst. Die Aufregung steigt. Ich begrüße die Gäste und beruhige die aufgeregten Brautleute. Allerdings verlaufen die Begegnungen mit den weiteren Beteiligten und mir als Pfarrerin nicht immer störungsfrei. Wenn der Fotograf plötzlich mit seiner Videokamera neben mir auf dem Boden liegt oder die Freundin des Brautpaares meint, das Kreuz auf dem Altar störe und müsse weggeräumt werden, wird es spannend.
Richtig traurig aber sind für mich oft die Momente, wenn im Anschluss die Kollekte gezählt wird. Da kommen bis zu 100 Menschen in die Kirche und am Ende zählt der Küster manchmal nur 30 Euro. Für die Obdachlosen, die Clowndoktoren, für die Arbeit im Hospiz und mit Flüchtlingen haben viele an diesem Festtag offenbar nichts mehr übrig. Wie wunderbar wäre es, wenn das Liebesglück mit denen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen, an einem Tag wie diesen geteilt würde! Auch das könnte in kostbarer Erinnerung bleiben im Rückblick auf den schönsten Tag des Lebens.
Pfrin. Claudia Ginkel, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 17. August 2019
Wie Licht in Dunkelheit fällt
Leonard Cohen singt: "There is a crack in everything, that's how the light gets in" (Da ist ein Riss in allen Dingen, so kommt das Licht hinein).
Wir wünschen uns schöne Oberflächen, schöne Fassaden. Und bemühen uns, die Risse und Falten glatt zu bügeln. Je älter wir werden, desto schlechter gelingt das, vielleicht haben wir aber auch kein Interesse mehr daran. Wir stehen auf dem Friedhof und nehmen Abschied von Menschen und vielleicht wird uns klar, dass alle unsere Erinnerungen an diesen Menschen sie oder ihn nicht annähernd erfassen. Unser Leben ist wie ein Puzzle, in dem Stücke fehlen oder verloren gegangen sind. Und was hinterher in der Erinnerung glatt gezogen wird und schlüssig scheint, ist im Moment des Erlebens oft bitter errungen oder schmerzhaft ertragen worden.
Können wir wenigstens hinterher die Brüche in unserem Leben verstehen? Dass Gewissheiten verloren gegangen sind, dass Gott uns entzogen ist, dass wir Menschen, die uns Halt gegeben haben, verloren haben? Das Leiden in der Welt können wir nicht begreifen, weil es nicht zu begreifen ist. Manche bemühen sich, es wegzuerklären oder zu übersehen, wie Risse durch die Welt gehen. Ich bin davon überzeugt, dass wir uns verändern, wenn wir uns vom Leid ergreifen lassen und mit Sympathie handeln. Wir können die Risse nicht heilen, aber wir können fürsorgliche Menschen werden über unsere engsten Vertrauten hinaus. Nur dann werden wir wirklich erfahren, was Liebe ist. Nur dann sehen, wie Licht in Dunkelheit fällt. Nur dann im Brüchigen Kraft spüren. Wenn wir einander helfen, die Lasten unseres Lebens zu tragen.
Pfrin. Susanne Domnick, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 25. Mai 2019
Europawahl mit Martin Luther
Vorgestern fuhr ich mit dem Auto nach Frankfurt. Auf einer der großen Einfahrtstraßen in die Stadt fiel mir schon von weitem ein Plakat mit dem Portrait Martin Luthers auf. Als ich genauer hinschaute, erschauderte ich. Mit ihm warb eine rechtsextreme Partei für sich für die Europawahl dieses Wochenende. „Ich würde (XX- Name der Partei) wählen. Ich könnte nicht anders“ stand darauf. Wieder einmal wird der Reformator für nationalistisches Gedankengut missbraucht und mit ihm suggeriert, welcher Partei Christen heute ihre Stimme geben sollten. Das ist ein starkes Stück! Wo Martin Luther sein Kreuz auf dem Stimmzettel heute machen würde, vermag ich im Letzten nicht zu sagen. Für mich ist jedoch klar, dass das Europa von heute ein lebendiger Ausdruck des ökumenischen Gedankens ist. Gerade in einer Zeit, in der in vielen Ländern Europas die Rufe nach Abschottung und Populismus zunehmend hörbarer werden, gilt es hier ein Zeichen zu setzen. Mit einem Rückfall in ein “Klein-klein“ vermögen wir sicher nicht die großen Herausforderungen zu stemmen, die der Klimawandel, die Fragen zu Asyl und Migration und die Sicherung des Friedens mit sich bringen. Sicherlich ist in der Europäischen Union nicht alles zum Besten bestellt. Es gibt manche Entscheidungen, die wir nur schwer oder gar nicht mittragen mögen. Nichtsdestotrotz steht es uns gut an, die demokratischen und pro-europäischen Parteien zu stärken und den destruktiven Kräften etwas entgegenzuhalten. Ich werde wählen gehen.
Pfrin. Claudia Ginkel, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ Januar 2019
Fragment
Es gibt Zeiten, in denen wir in besonderer Weise auf unser Leben zurückblicken. Ein Jahreswechsel, der Schulabschluss, der 50.Geburtstag oder der Eintritt in den Ruhestand können solche Zeiten für uns Menschen sein. Im Rückblick leuchtet vieles noch einmal auf: Gelungenes, glückliche Tage, aber auch Scheitern und Liegengebliebenes. Und manchmal kommen Gedanken dazu, wie das Leben wohl geworden wäre, wenn man sich an gewissen Wendepunkten anders als damals entschieden hätte. Ob das Leben dann (noch) besser oder glücklicher verlaufen wäre? Was auch immer uns bei solchen Überlegungen bewegen mag, im Letzten bleibt unser Leben, unser Tun und Lassen Stückwerk. Es bleibt Fragment: Unsere Arbeit, unsere Beziehungen und Begegnungen, unsere Liebe, unsere Ideale, unsere Pläne. Dabei gibt es manches auf unserem Lebensweg, das wir nicht verstehen, das uns rätselhaft bleibt. Es gibt Fragen, auf die wir nur allzu gerne eine Antwort wüssten und doch ohne Antwort weiterleben müssen. In allem Bemühen merken wir: wir bleiben immer im Vorläufigen. Schon der Apostel Paulus hat von dem bruchstückhaft Bleibenden unseres Lebens gesprochen und von dem Spiegel durch den wir nur ein dunkles Bild zu sehen vermögen. Gleichwohl weiß er um den Moment, wo ich im Angesicht Gottes einmal die ganze Wahrheit über mich erfahre. Dieser Moment will kein zerstörerischer sein. Im Gegenteil. Er wird heilend sein, wenn ich endlich sehe, was ich zuvor nur glauben konnte: die unendliche Barmherzigkeit und Liebe Gottes, die alles verzeiht und alles löst und das Fragment meines Lebens zu einem segensreichen Ganzen zusammenfügen wird. Ich finde: mit solchem Gottvertrauen lässt sich mancher Blick zurück, der im Moment noch schwer wiegen mag, gut aushalten.
Pfrin. Claudia Ginkel, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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„… denn es ist eine Kraft Gottes!“
Predigt im Rahmen des Festgottesdienstes am Reformationstag 2018
Stadtkirche Friedberg
Dekan Volkhard Guth: Ich mache mir Sorgen – nach den Wahlen. Seit Sonntag sind Ausgrenzung, populistische Parolen, offen geäußerter Rassismus, verbale Entgleisungen, Denunziation und Entdemokratisierung scheinbar demokratisch legitimiert in unserem Bundesland, mit Sitz und lauter Stimme. Dieses Klima, auch anderswo in Europa und in der Welt, bereitet mir Angst. Es ist nämlich auch der Boden dafür, dass in diesem Jahr in Deutschland im Schnitt jede zweite Woche ein Angriff auf ein Asylbewerberheim und ein Angriff auf eine Synagoge stattfinden.
Mit meiner Angst nicht alleine. Die Deutschen haben wieder mehr Angst. Das besagt auch eine Studie vom September diesen Jahres, die eine große deutsche Versicherung herausgegeben hat. Seit 25 Jahren fragt sie nach unseren Ängsten. Am meisten haben die Deutschen demnach Angst vor einer gefährlicher werdenden Welt durch die Politik Donald Trumps; Angst, dass die deutschen Behörden überfordert sein könnten mit den Geflüchteten; Angst vor Konflikten durch den Zuzug von Ausländern. Unter den ersten zehn Nennungen finden sich auch die Angst vor politischem Extremismus und die Angst vorm Altwerden. Acht von zehn Angst-Nennungen betreffen Grundstrukturen unsers gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Der biblische Satz „In der Welt da habt ihr Angst“ (Joh.16, 33) ist also eine realistische Beschreibung der Wirklichkeit, wie wir sie in unserer Zeit erleben. Aber der biblische Satz „In der Welt da habt ihr Angst“ ist theologisch betrachtet so etwas wie ein Nebensatz. Denn der Hauptsatz dazu lautet: „Ich aber habe die Welt überwunden!
Pfarrer André Witte-Karp: Es ist eine der großen Herausforderungen an unseren Glauben, der Wahrheit und der Tragfähigkeit dieser Aussage zu trauen – und sie dann auch zur Geltung zu bringen. Paulus schreibt in seinem Brief an die Gemeindeleute in Rom: Das Evangelium ist ein Kraft Gottes! Denn es ist das Evangelium von Jesus dem Christus. Daraus erwachsen seine Zuversicht und sein Mut.
365 Mal steht in unserer Bibel der Satz „Fürchte dich nicht“. Doch reicht alleine der wiederholte Apell? In Situationen, in denen ich mich in meinem Leben konkret geängstigt habe, war die Erfahrung, die mich gestärkt und die mir Mut und Kraft gegeben hat: Da ist jemand bei mir! Da ist jemand an deiner Seite, der oder die nicht so von Angst gepackt ist wie du selbst.
Dekan Volkhard Guth: Im Johannesevangelium ermutigt Jesus angesichts der Welt, in dem er auf sich selbst verweist. Und er beschreibt sein Wirken eben mit den Worten: „Ich aber habe die Welt überwunden.“ Damit ist sein siegreicher Kampf mit den Mächten gemeint, die es darauf angelegt haben, uns Angst zu machen. Im Vater-unser werden sie zusammenfassend „das Böse“ genannt, von dem wir erlöst, also befreit werden sollen. Darum bitten wir Gott.
Diese Mächte des Bösen, die mir Angst machen wollen, eint, dass sie allesamt lebensverneinend, lebensbedrohlich, lebenszerstörend sind. Ihnen ist Christus entgegengetreten! In seiner Verkündigung, in seinem Wirken, in seinem Leben: von der Versuchung durch Satan, über Krankenheilungen und Austreibungen, bis hin zum Kreuzestod. Er hat sich – das ist der Inhalt des Evangeliums – mit diesen Mächten auseinandergesetzt und ihnen den Kampf angesagt. Er hat sie zugleich auf sich genommen und unter ihnen gelitten. Und gerade darin hat er sie überwunden!
„Da Tod und Leben rungen; das Leben behielt den Sieg, es hat den Tod verschlungen“. (EG 101,4), so hat es einst Martin Luther in seinem Osterlied „Christ lag in Todesbanden“ zum Ausdruck gebracht.
Pfarrer André Witte-Karp: Davon geht auch Paulus aus, wenn er im Evangelium Christi die Kraft Gottes erkennt. Das ist der Grund unseres Glaubens. Das ist der Inhalt des Evangeliums. Deswegen ist es eine Kraft Gottes.
Dieses Evangelium gehört in die Welt. Es muss in die Welt, um es der Angst und allen lebensverneinenden Mächten und Gewalten unserer Zeit entgegen zu setzen.
Und dieses Evangelium entfaltet seine Kraft, wenn wir es einander zusagen. Das Tröstende und Ermutigende von jemandem zu hören, es zugesagt bekommen, hat eine viel größere Kraft als es mir selbst zu sagen. Sagen wir es einander zu, als gutes, als befreiendes Wort in einer Zeit der Krisen!
Dekan Volkhard Guth: Und damit wird das Evangelium politisch. Weil es in die Welt hinein spricht. Das Wort „politisch“ soll hier nicht auf die Bedeutung „parteipolitisch“ reduziert werden. Das würde das Politische, aber auch das Evangelium ideologisieren.
Denen, die dem Evangelium das Politische absprechen wollen, die es einzig in den Raum der Kirche verweisen wollen, müssen wir sagen: Das Politische muss in einer Demokratie weiter gefasst werden. Politisch sind nämlich auch gesellschaftliche Teilhabe, bürgerschaftliches Engagement und der Einsatz des Einzelnen für Aufgaben des Gemeinwohls.
Pfarrer André Witte-Karp: Politisch ist deshalb das Gemeinsame Mittagessen, das jeden Freitag unter dem Abendmahlfenster in dieser Kirche stattfindet. Politisch sind darum die Projekte „Alle können lernen – Schulmaterial für jedes Kind“ und „Kochen ohne Grenzen“ unseres Familienzentrums. Politisch sind der Deutschkurs für Geflüchtete, der Nähtreff und das Kirchenasyl.
Politisch sind alle diese Angebote, weil sie gegen die Tendenz von Segmentierung und Vereinzelung Menschen zusammenführen. Politisch sind sie, weil sie der fehlenden Anteilhabe konkreter Menschen entgegenwirken. Politisch sind sie, weil sie der Missachtung einzelner mit ihrer Lebenslage und ihrer Geschichte Respekt, Perspektive und Zutrauen entgegensetzen.
All diese Angebote geschehen im Namen dessen, der sagt: „Fürchtet euch nicht“. Sie sind Ausdruck des Evangeliums, das – mit Paulus gesagt – selig und heil macht, weil es von Gottes Gerechtigkeit her denkt, vertraut und lebt.
Dekan Volkhard Guth: An einem Reformationsfestabend sei es gestattet zu sagen: Wir Evangelischen haben lange gebraucht, um das zu begreifen. Lange Zeit waren wir seit der Reformation in unserer Geschichte gar nicht gefordert, uns politisch durch das Evangelium zu positionieren. Wir waren lange Teil des Staates und solange sich die Obrigkeit als christlich verstand, schien alles gut.
Vor genau 100 Jahren – 1918 – passierte der Einschnitt: Plötzlich waren die Evangelischen auf sich gestellt. Plötzlich mussten wir uns in einem demokratischen Staat, der Weimarer Republik, neu orientieren und politisch positionieren. Wie schwer wir uns mit der Demokratie taten, zeigte spätestens die Machtergreifung des Nationalsozialismus.
Es war die Bekennende Kirche, die Politik, Staat und Kirche ins Verhältnis zueinander setzte: die Barmer theologische Erklärung drückt das aus! Kirche wird mit ihrem Evangelium politisch, wo der Staat sich religiöse Ansprüche aneignet oder wo er den Totalanspruch auf das Leben der Menschen formuliert.
Dietrich Bonhoeffer hat demgegenüber deutlich gemacht: Christliches Dasein ist Da-sein für andere. (Evangelische) Kirche ist nicht mehr Teil des Staates, sondern Teil der Gesellschaft. Und so hat sie eine politische Stimme.
Es geht auch heute, einhundert Jahre später, nicht um „die Einmischung“ der Kirche, wenn wir mit der „Kraft des Evangeliums“ rechnen. Ich finde ohnehin, das Wort Einmischung suggeriert, die Kirche würde eine Grenze überschreiten, wenn sie sich öffentlich zeigt und äußert.
Wir mischen uns keineswegs in ein fremdes Gebiet ein, wenn wir uns als (evangelische) Kirche vom Evangelium her ernst nehmen und uns begründet äußern – und Wort und Tat.
Pfarrer André Witte-Karp: Unsere Demokratie lebt davon, dass wir uns als Bürgerinnen und Bürger und dass sich die zivilgesellschaftlichen Gruppen begründet äußern und einbringen. „Unser freiheitlicher, säkularisierter Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“, lautet der berühmte Satz von Ernst-Wolfgang Böckenförde. Das heißt: Die Voraussetzungen unserer Demokratie liegen am Ende nicht in der Verantwortung des Staates, sie liegen in unserer Verantwortung!
In den zugespitzten, polarisierten Auseinandersetzungen, die wir erleben, gilt es, eine Grundverantwortung besonders zu beherzigen: Die Freiheit, die ich habe, mich zu äußern, nimmt mich immer zugleich in Anspruch. Sie nimmt mich in Anspruch, das Recht aller auf diese Freiheit anzuerkennen. Wenn wir eine faire Diskussion führen wollen, müssen wir unterscheiden zwischen unserer Privatmeinung (die gehört uns) und unserer öffentlich geäußerten Meinung. Wenn ich meine Meinung öffentlich äußere – am Tisch, auf der Arbeit, in der Klasse, auf der Kanzel – wird sie Teil einer Diskussion, an der auch alle anderen teilnehmen. Die Demokratie lebt davon, dass wir unsere Meinung öffentlich äußern. Und sie lebt zugleich davon, dass wir nicht unterstellen, dass unsere persönliche Überzeugung so eindeutig ist, dass sie sogleich auch für alle andere Gültigkeit haben muss. (Hierzu: Daniel-Pascal Zorn, Logik für Demokraten. Eine Anleitung, Stuttgart: Klett-Cotta 2017)
Das ist die Herausforderung, dem Populismus nicht selbst populistisch zu begegnen und ihm so letztlich auf den Leim zu gehen. Es ist die Herausforderung, den simplen Verallgemeinerungen, den Pappkameraden, dem Opfermythos und der Demagogie des Populismus mit einer Haltung entgegenzutreten, die selbst demokratisch bleibt und so die Demokratie stärkt!
Im Ringen mit der Reformation ausgedrückt: Es geht um die Haltung einer Freiheit, die in Verantwortung führt und Verantwortung ermöglicht. Es geht um die Ausdrucksform: „Nicht durch Gewalt, sondern durch Überzeugung!“ – „Sine vi sed verbo!“ Und wir können ergänzen: Nicht durch das Schüren von Angst, aber auch nicht durch das Behaupten, wir stünden immer schon auf der richtigen, auf der guten Seite, sondern durch Überzeugung müssen wir wirken.
Dekan Volkhard Guth: Die Quelle dafür ist die Heilige Schrift, die wir zu lesen und das Evangelium, das wir auszulegen haben. Vielleicht müssen wir es am Reformationsabend wieder neu lernen: Wenn wir der Welt das Evangelium der Kraft Gottes zusprechen und zumuten, müssen wir unsere Bibel sorgsam auslegen. Und je „politischer“ ein Thema ist, umso konzentrierter muss es theologisch bearbeitet und ausgelegt werden. Das ist die Herausforderung an uns.
Das erfordert zum einen eine kritische Distanz uns selbst gegenüber, die Wahrnehmung unserer eigenen Interessen und Anteile. Das Evangelium dient nicht nur zur eigenen Erbauung.
Und das erfordert zum anderen eine kritische Solidarität mit unserem Land und dieser Gesellschaft aus dem Evangelium heraus. Die „Welt“ im Lichte des Evangeliums sehen. Das ist die Aufgabe, vor der wir vermehrt als evangelische Gemeinde stehen werden, die jeder Predigt aufgetragen und die jedem einzelnen zugebilligt wird.
Pfarrer André Witte-Karp: Die biblische Form der Ermutigung angesichts all dieser Herausforderungen lautet: „Fürchtet euch nicht!“
Auch diese Ermutigung setzt voraus, dass es Gründe gibt, sich zu ängstigen. Aber das „Fürchte dich nicht!“ macht deutlich, dass diese Gründe eben nicht das letzte Wort behalten können, von Gott aus nicht. Durch Jesus Christus sind sie überwunden und entmachtet! Deshalb ist das Evangelium mit Paulus gesprochen eben „eine Kraft Gottes“.
Dekan Volkhard Guth: Das Reformationsfest im Jahr 501 nach dem Thesenanschlag will uns als evangelische Gemeinde ermutigen und anleiten, unsere Sorgen und Ängste zu sehen und zu nennen. Im Lichte des Evangeliums dessen, der von sich sagt: In der Welt da habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.
Das Reformationsfest in diesem Jahr ermutigt aber auch, hörbar von der Zuversicht und dem Vertrauen zu reden, das wir aus dem Glauben an dieses Evangelium gewonnen haben.
Es ist die Kraft Gottes, die wir haben, wenn wir uns einmischen und auseinandersetzen.
Das, liebe Schwestern und Brüder, ist die öffentliche Rechenschaft der Kirche. Das ist ganz im Sinne des Apostels, wenn er freimütig bekennt: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes…!“
Amen.
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 22. September 2018
Welche Lieder singen Sie?
Rock, Pop, Soul oder Kinderlieder? Klassische Arien unter der Dusche, Kirchenlieder im Gottesdienst, Volkslieder beim Wandern? Oder singen Sie gar nicht? Weil Sie denken, Sie könnten nicht singen, oder weil Sie nicht wandern, oder weil es peinlich ist, auf dem Bahnsteig zu stehen und zu pfeifen? Wir sind leise geworden, man könnte sagen, stumm, weil der Fernseher läuft oder die Benutzung der kleinen schwarzen Schachteln nicht zum Singen animiert.
Landauf, landab, vor allem, aber nicht nur im Osten der Republik, ertönen wieder laute Lieder. Es wird gegrölt, gebrüllt, geschrien,"hauab" und "Merkel muss weg" und dazu läuft ohrenbetäubend deutschsprachige Musik. Aufhetzung, Hasstiraden, eine Verrohung von Sprache und Gedanken und Umgang, Fremdenhass und Gewalt - und alles wird lautstark nach außen gebracht. Ja, auch früher haben Menschen so gedacht. Aber bis vor wenigen Jahren war das nicht salonfähig und das wurde selten rausgegrölt. Jetzt werden die schmutzigen Lieder gebrüllt.
Die evangelische Kirche in Sachsen begegnet dem auf eine klare Weise. Heimatliebe und Weltoffenheit gehören für sie zusammen. Unter dem Motto „Wir in Chemnitz – aufeinander hören, miteinander handeln“ wirbt die Kirche um Gewaltlosigkeit, Respekt, Barmherzigkeit und Dialog. Deutlich wird in diesen Tagen, dass es nicht reicht, das Gegröle abstoßend zu finden und im Inneren anderer Meinung zu sein. Es ist wichtig, die anderen Lieder zu singen. Hörbar. Lieder, die uns zur Verbundenheit, zur Nächstenliebe, zum Mitgefühl einladen. Lieder zum Mitsingen.
In Sarajewo gibt es einen interreligiösen Chor, in Frankfurt auch. Einen interkulturellen Chor bilden auch wir, wenn wir miteinander sprechen und uns kennenlernen. Singen hilft gegen Verunsicherung, Angst und Einsamkeit. Sagen Sie "Stopp, ich bin da anderer Meinung", wenn vor Ihnen die fremdenfeindlichen Sprüche laut werden. Singen wir doch das Loblied der Demokratie, wenn uns der Klang von Solidarität und Gerechtigkeit wichtig ist. Gehen Sie wählen am 28. Oktober. "Kind, du bist uns anvertraut, wozu werden wir dich bringen? Wenn du deine Wege gehst, wessen Lieder wirst du singen?"
Pfrin. Susanne Domnick, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙18. August 2018
Erfrischendes Nass
Letzte Woche war ich nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder im Schwimmbad. Die Hitze war so groß und das Verlangen nach Abkühlung so stark, dass ich kurzentschlossen ins Usabad fuhr. Als ich dort am großen Schwimmbecken ankam, sprang ich ins Wasser und schwamm ein paar Bahnen hin und her so wie es die meisten Erwachsenen taten. Doch auf einmal hatte ich den inneren Impuls nicht mehr weiter zu schwimmen, sondern mich einfach auf den Rücken zu legen und mich treiben zu lassen. Ich schloss die Augen. Meine Ohren füllten sich mit Wasser. Ich hörte kaum mehr etwas von dem, was um mich herum geschah. Minutenlang verharrte ich so. Und auf einmal durchfuhr mich ein Glücksgefühl ungekannter Art. Das Wasser trägt mich. Ich gehe nicht unter. Ich werde gehalten und erfrischt. Wie wunderbar! Und mir kam in den Sinn: Sich vom Wasser getragen und gehalten zu erfahren, sich auf das Wasser einzulassen und sich ihm anvertrauen zu können ist etwas, das dem Glauben gleich kommt. So wie das Wasser mich trägt, so trägt mich auch Gott in allem, was mir begegnet und mir widerfährt, auch wenn manchmal hohe Wellen über mich einschlagen. Der Beter des 139. Psalms hat das einmal so ausgedrückt: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“
Tragende Erfahrungen in und außerhalb des Wassers wünscht
Pfrin. Claudia Ginkel, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙24. Juni 2018
Nichts ist für die Ewigkeit
Auf Plakaten in Fitnessstudios gibt es eine Menge plumper Sprüche. Viele davon wollen einen dazu motivieren, mehr aus sich herauszuholen. Vor einiger Zeit habe ich jedoch einen Spruch gesehen, der mich zum Schmunzeln gebracht hat. Da hatte jemand auf seine durchtrainierte Brust die Worte tätowiert: „Nichts ist für die Ewigkeit“. Die Haltung dahinter gefällt mir. Da macht einer mit beim Fitness- und Körperkult und freut sich an den Ergebnissen seines Trainings. Er misst dem aber nicht zu viel Gewicht bei, weiß um die Vergänglichkeit seines Tuns und hält das mit einer gehörigen Portion Selbstironie fest.
An diese fünf Worte muss ich in diesen Tagen wieder denken. Wenn es für den Sommer doch nicht mit der dir versprochenen „Strandfigur ohne Stress“ geklappt hat: Auch die hätte nicht ewig Bestand gehabt. Wenn dich die Zeugnisnoten deines Kindes beunruhigen: Sie legen die Wege der Zukunft nicht fest. Wenn dir Angst macht, wie schnell sich unsere Welt wandelt: Nichts ist für die Ewigkeit.
Mir hilft dieser Satz, immer wieder ein Rendezvous mit der Wirklichkeit zu wagen. Er hilft mir Krisen ernst zu nehmen, mich aber nicht verrückt machen zu lassen. Weder in Depression noch in Aggression zu verfallen, sondern mich herausfordern zu lassen. Was vor sich geht achtsam wahrzunehmen und mich doch zu vergewissern: Letztlich ist da etwas anderes, etwas tieferes, was mein Leben und diese Welt zusammenhält und Ewigkeit hat. Was es für den Menschen mit der tätowierten Brust ist, weiß ich nicht. Ich hätte ihn fragen sollen. Kämen wir heute ins Gespräch und fragte er auch mich, ich würde sagen: Für mich ist es Gott. Aber das wäre erst der Anfang eines Gesprächs und nicht die fertige Antwort.
Pfr. André Witte-Karp, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙7. April 2018
Heimat
Wir haben jetzt ein Heimatministerium. Wie merkwürdig. Neben einem Verkehrsministerium und einem Verteidigungsministerium und einem Familienministerium. Ebenso komplex wie diese ist wohl auch das Heimatmysterium. Wie kann dieses Gewebe aus Erinnerung, Gefühl, Anhhänglichkeit, Idealisierung eingefasst werden?
Wir können uns daran erinnern lassen, dass es nicht unser Verdienst ist, in einem Land und in einer Gesellschaft geboren zu sein, die von Wohlstand, Freiheit und Teilhabe für den Großteil der Bevölkerung gekennzeichnet ist. Aber ist Heimat das, woher wir kommen? Ist Heimat ein Ort? Ist Heimat ein Gefühl?
Ich habe einige Menschen nach ihrem Verständnis von Heimat gefragt. „Heimat ist, wo ich mich geborgen fühle.“ „Heimat ist, wo ich dazugehöre.“ „Heimat ist da, wo ich wieder hinwill.“ „Heimat ist, wonach ich mich sehne.“
Vielleicht könnte uns das Ministerium daran erinnern, dass wir aus Heimatlosigkeit stammen, dass Fremdheitserfahrung entscheidend zu unserer Existenz gehört. Der Philosoph Ernst Bloch sagt: Heimat ist das, „was jedem in die Kindheit scheint, und worin noch niemand war.“
Heimat meint nicht unsere Herkunft, sondern etwas, was noch aussteht, was entstehen will. Heimat ist eine Utopie, wir sind noch nicht zu Hause, die Welt ist noch nicht zu Hause.
In der jüdisch-christlichen Tradition liegt der Blick auf dem, was wir als vermeintliche Heimat verlieren und hinter uns lassen müssen und der Ausblick auf das, was uns von Gott zukommt, was wir erwarten über die Wirklichkeit hinaus. Ein Heimatministerium im Sinne christlicher Leitkultur würde den Anbruch einer neuen Welt durch Gottes Wirken verkünden. Heimat ist ein religiöser Begriff, das wird mir klar in der Debatte um das Heimatministerium.
Pfrin. Susanne Domnick, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 12. August 2017
Heitere Gelassenheit
Für viele startet spätestens am Montag wieder der Alltag. Die Urlaube liegen hinter uns, die Ferien sind vorbei. Und auch wer in den vergangenen Wochen seinen gewohnten Tätigkeiten nachgegangen ist, hat die Zeit vielleicht als ruhiger erlebt.
Jetzt nimmt also allerorten der ganz normale Wahnsinn wieder seinen Lauf: der Alltag mit seinen Routinen und Aufgaben, mit seinen Herausforderungen und Schwierigkeiten, mit seiner Schnelllebigkeit. Die Zeit, in der wir leben, ist ja alles andere als leicht zu bestehen. Das gilt für den Blick auf das große Ganze wie für viele unserer eigenen Lebensgeschichten.
„Je schwieriger die Zeiten, umso wertvoller wird heitere Gelassenheit“, lese ich an einem meiner ersten Alltagstage am Frühstückstisch in einer Wochenzeitung. Ich nehme mir die Zeit, koche mir noch einen Kaffee, lese den ganzen Artikel und komme ins Schmunzeln. Mir kommt die Geschichte in den Sinn, wie Jesus mitten auf hoher See einen heftigen Sturm verschläft. Die anderen im Boot geraten in Panik und regen sich über Jesu Gelassenheit auf. Es fasziniert mich, wie Jesus sich von Gott getragen weiß, gerade in stürmischer Zeit, und wie sehr ihn das zum Handeln ermutigt. Und seine kritische Frage an die anderen „Wo ist euer Glaube?“ höre ich jetzt mit einem deutlichen humorigen Unterton. Ich klappe die Zeitung zusammen und mache mich auf in meinen Alltag, beschwingter, mit heiterer Gelassenheit. Wie lange das vorhält? Mal sehen.
André Witte-Karp, Pfarrer in Friedberg und stellv. Dekan,
mit Dank an Martin Jockel, Gemeindepraktikant
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 11. Juni 2017
Vater, Mutter, Licht, Liebe?
Als ich vorletzte Woche auf dem Kirchentag in Berlin war, wurde mir ein Flyer in die Hand gedrückt. Er empfahl sich als korrigierende Ergänzung zum Liederbuch, das allen angemeldeten Kirchentagsteilnehmern vorab zugeschickt worden war. Auf dem Flyer fand ich eine Auflistung mit Vorschlägen, wie Lieder so zu singen sind, dass sie der „gerechten Sprache“ genüge tun. Wenn in einem Lied beispielsweise das Wort Herr steht, möge ich Gott singen, wenn von Brüdern die Rede ist, bitteschön von Schwestern.
Ehrlich gesagt: Die bis ins letzte Detail vermerkten Alternativen fand ich übertrieben und zwanghaft. Nichtsdestotrotz fand ich den Impuls gut.Wie vielen fällt es manchmal schwer, das „Vater unser“ zu beten, weil die Erinnerung an den eigenen leiblichen Vater mit belastenden, ja vielleicht sogar gewaltvollen Erfahrungen verbunden ist.
Wie gut zu wissen, dass die Bibel auch andere Gottesbilder kennt. Von Gott „als stillender Mutter“ zum Beispiel oder auch „energetische“, apersonale Beschreibungen wie die, dass Gott die Liebe ist oder Licht. Sich das vor Augen zu führen und unsere Traditionen daraufhin zu überprüfen, ob sie andere Geschlechter und Religionen ausgrenzen, ist nicht nur wichtig, sondern kann auch heilsam sein für den eigenen Glauben und das eigene Verstehen. Gott lässt sich mit unseren Zuschreibungen, Bekenntnissen und unserer Sprache nie im Ganzen fassen. Sie bleiben immer vorläufig und sind ein nur ein Mosaikstein des großen Geheimnisses, in dem wir „leben, weben und sind“.
Pfarrerin Claudia Ginkel, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 20. Mai 2017
Reformationsjahr - ein Lutherjahr?
Häufig werde ich gefragt "was halten Sie denn vom Reformationsjubiläum?" "Was interessiert Sie?" "Naja, was denken Sie denn so über Luther, der ist ja jetzt in aller Munde?" Ach, Du liebe Güte, denke ich, muss das sein... Ja, was denke ich als Theologin und Pfarrerin über den Ahnherrn der Reformation wirklich?
Als ersten Text von Martin Luther habe ich im Studium "Von der Freiheit eines Christenmenschen" gelesen und war fasziniert, wie einer, tief eingebettet in der mittelalterlichen Welt, einen solchen Ausblick entwerfen kann. Dienstbare Magd und freie Frau zugleich, untertan und frei zugleich in der Bestimmung meines Handelns (auch wenn Luther 1520 dabei vermutlich nicht an Frauen gedacht hat, sind wir mitgemeint). Und nur wenige Jahre später ruft er auf, die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern zu zerschlagen wie einen tollwütigen Hund. Beschimpfungen und Vernichtungsphantasien gegen die Juden sind in vielen seiner Schriften zu finden. Luther rechtfertigt Hexenverbrennungen und denunziert Andersdenkende als Feinde Gottes. Wie wird ein radikaler Denker und Frager zu einem fundamentalistischen Hassprediger? Gegen die Frauen, die Bauern, die Juden, die Wiedertäufer. Luther wollte die Welt besser machen, Recht behalten, seine Erkenntnisse durchsetzen und ist seinem Zorn über die unvollkommene Welt erlegen.
Dem Martin Luther ist das Mitgefühl abhanden gekommen, scheint mir. Der hat gar nichts mehr gespürt außer, dass er sich im Recht fühlte. Ich les dann doch wieder lieber in der Bibel als Martin Luther - da staune ich über das Mitgefühl, das Jesus uns Menschen zutraut...
Pfarrerin Susanne Domnick, Ev. Kirchengemeinde Friedberg
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Kirchenpräsident der EKHN
Dr. Dr. h.c. Volker Jung
zur Jahreslosung 2017
„Gott spricht: Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.“ (Hesekiel 36,26)
Das Herz ist ein besonderer Teil des Menschen. Es ist das Zentrum unseres Lebens, denn das Herz ist mehr als ein bloß leibliches Organ. Symbolisch steht es für das innerste Zentrum eines Menschen, der Ort, wo sich entscheidet, wie ein Mensch lebt.
„Er oder sie hat ein gutes Herz.“ Damit ist gemeint: Das ist ein Mensch mit viel Gespür für andere, mit gutem Geist und mit großer Hilfsbereitschaft. Wer das „Herz am rechten Fleck“ hat, ist ein offener und einfühlsamer Mensch. Unsere Wünsche sind oft „herzlich“. Wenn es nicht bloß eine Floskel ist, besagt das: Was ich dir wünsche, meine ich ehrlich. Es kommt aus meinem innersten Denken und Empfinden.
In der Jahreslosung für 2017 geht es um dieses innere Zentrum menschlichen Lebens. Die Worte stammen aus dem Buch des Propheten Hesekiel. Ihn beauftragt Gott, so erzählt es das Alte Testament, seinem Volk Israel zu sagen: „Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.“ (Hesekiel Kapitel 36, Vers 26) Gott möchte einen neuen Anfang machen. Das „steinerne“ Herz will Gott entfernen und ein neues Herz schenken. „Steinern“ sind die Herzen der Menschen, die Gottes Gebote nicht mehr achten. Weil sie den Respekt vor anderen Menschen verloren haben – besonders vor den Schwachen. In der Bibel werden in diesem Zusammenhang immer wieder Witwen, Waisen und Fremde genannt. So geht es nicht nur um das Herz einzelner Menschen, sondern auch um das Herz der Gesellschaft - nämlich darum, wie sich eine Gesellschaft um die kümmert, die besondere Hilfe brauchen.
Wie ist es heute um unser Herz bestellt? Ganz persönlich? Und wie um das „Herz“ der Gemeinschaft, in unseren Familien, in unseren Dörfern und Städten, in Deutschland, in Europa, in der Welt? Natürlich auch in unseren Gemeinden und in unserer Kirche. Wo sind die Herzen „steinern“ geworden? Wo haben sie sich verschlossen oder sind dabei, sich zu verschließen – vor anderen Menschen und vor Gott? Diese Fragen werden von den Worten des Hesekiel angestoßen. Zugleich richten die alten Worte den Blick auf das, was Gott Menschen immer wieder nahegebracht hat und bis heute nahe bringt: Gott schenkt neue Herzen und einen neuen Geist.
In unserer Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau feiern wir das 500. Jubiläumsjahr der Reformation unter dem Motto: „Gott neu entdecken“. Martin Luther hat beim Studium der Bibel erlebt, wie Gott sein Herz mit einem neuen Geist erfüllte, ihm ein neues Herz schenkte: Aus Lebensangst wurde neue Zuversicht und aus Höllenfurcht tiefes Gottvertrauen.
Weltpolitische Entwicklungen, andauernde Konflikte und Kriege, terroristische Bedrohungen und vieles mehr verunsichern zurzeit viele Menschen. Doch Angst ist kein guter Ratgeber, weil Angst die Herzen eng macht und „versteinern“ lässt. Diese
Angst bedroht unser persönliches und unser gesellschaftliches Innerstes, denn sie wirkt sich darauf aus, wie wir leben wollen. Wenn es der Angst gelingt, unser Herz zu versteinern, dann verlieren wir viel von unserer Herzlichkeit und unserer Mitmenschlichkeit.
Ich wünsche mir, dass Gott die Herzen vieler Menschen mit einem guten Geist erfüllt, mit einem Geist des Gottvertrauens, der Zuversicht, der Nächstenliebe und der Offenheit. Das wünsche ich auch unserem Land und ganz Europa, damit wir uns nicht verschließen. Nicht voreinander. Und nicht vor den Menschen, die bei uns Hilfe und ein neues Leben suchen. Gott schenkt einen neuen Geist und ein neues Herz. Darin stecken die Lebenskraft und die Lebensfreude, die von Gott kommen und die wir für das neue Jahr mit all seinen Herausforderungen brauchen.
Deshalb wünsche ich - von Herzen: ein gesegnetes neues Jahr!
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Predigt zur Christvesper ∙ 24. Dezember 2016
Nun sind wir hier, Weihnachten beginnt, vielleicht auch für Sie, mit der Christvesper hier in der Kirche. Menschen, Musik, Worte. Klänge der Verheißung, vom Äußeren zum Inneren zu kommen. Von den äußeren Ebenen: Arbeit, Familie, menschlichen Beziehungen, den vielen Herausforderungen des Alltags. Zu den inneren Ebenen: unserem Wesenskern, tiefer als das, was wir besitzen und darstellen, das Bewusstsein unserer Identität als Mensch und Verbundenheit mit dem Göttlichen. Ein Sehnen, vom Äußeren zum Inneren zu kommen, ja, das könnte ein Grund sein, warum wir uns hier an Weihnachten versammeln.
Und dann die Weihnachtsgeschichte – sie beginnt mit der äußeren Ebenen, den äußeren Gegebenheiten: Es begab sich aber zu der Zeit, dass von Kaiser Augustus ein Gebot zur Volkszählung ausging!
Zählen wir auch hier in der Kirche für zwei Momente.
Vor manchen von Ihnen steckt am Vorderstuhl eine grüne Karte. Bitte seien Sie so freundlich und halten sie hoch, damit wir alle die grünen Karten hier in der Kirche sehen können.Das müssten 18 Karten sein. Das entspricht im Verhältnis von uns hier in der Kirche (1000) ziemlich genau der Zahl der Geflüchteten, die in den vergangenen zwei Jahren nach Deutschland gekommen sind. Gut 80 Millionen Einwohner in Deutschland, etwa 1,4 Millionen Geflüchtete. Und dann hören wir Sprüche, das solle eine Flut von Flüchtlingen sein? Eine Welle, die die äußeren Ebenen unseres Lebens hinwegschwemmt?
Und nun bitte ich alle, die eine blaue Karte im Stuhl vor sich stecken haben, diese für einen Moment hochzuhalten. Das müssten 50 Karten sein. Rund 5 % der Einwohner Deutschlands sind Muslime. Kann uns das wirklich Angst machen? Diese 50 lösen in uns aus, wir dürften nicht mehr leben, wie wir es für richtig halten? Diese 50 von 1000 könnten uns verbieten, an Weihnachten in die Kirche zu gehen? Diese 50 könnten uns zwingen, unsere Identität aufzugeben? Diese 50 gehören nicht zu uns? Sind nicht Teil unseres Lebens?
Beim Schreiben der Predigt habe ich überlegt, ob nun manche verärgert die Kirche verlassen – weil das in ihrem Verständnis nicht zu Weihnachten gehört. Was ich, inspiriert vom ersten Satz der biblischen Geschichte, sichtbar machen möchte, ist folgendes:
Diese Zählung soll uns helfen zu sehen, was uns gesellschaftlich so unter Druck setzt. Weder Flüchtlinge noch Muslime sind der Grund für die tiefgreifenden Veränderungen unserer Welt. Weder Flüchtlinge noch Muslime sind die Ursache für Terrorismus. Durch Mord und Gewalt einzuschüchtern kommt dann zum Ziel, wenn wir uns vom Hass anstecken lassen und unser Erschrecken für Propaganda missbrauchen lassen. Wenn wir Vernunft und Mitgefühl ausschalten. Weihnachten, so meine ich, kann dem standhalten und der Gewalt sogar etwas entgegensetzen.
Die Weihnachtsbotschaft ist ein guter Nachhilfeunterricht bei Untergangsfantasien und Panikattacken und befreit von der Vorstellung, die bedrohte Welt mit Zäunen, Lagern oder brennenden Flüchtlingsunterkünften retten zu wollen.
Was können wir tun? Zusammenstehen, einander festhalten, Ängste und Vertrauen teilen. Leidenschaftlich dafür eintreten, dass Krieg und Gewalt nicht der Weg sind. Die Engel sagen: Furchtet euch nicht. Und sie sagen das nicht, weil die Welt so schön ist, sondern weil unsere Welt manchmal zum Fürchten ist.
Maria hat sich in den Dienst nehmen lassen. Menschen, die der göttlichen Berufung folgen, müssen nicht in der Kirche arbeiten. Vielleicht arbeiten sie in einem Konzern oder einer Bank. Wenige Menschen genügen, um die Welt von ihrer Gier, Gewalt und Selbstzerstörung abzuhalten. Gott braucht nur wenige Menschen, die furchtlos leben. Nicht unsere Sehnsucht nach Widerspruchslosigkeit und einfachen Lösung wird hier gestillt, sondern das Leben in Widersprüchen, bis ins Innerste berührt von der Not in der Welt – das wird gesegnet mit der Geburt des göttlichen Kindes. Gott steigt herab mitten in die Welt – das ist der Inbegriff der biblischen Botschaft an Weihnachten. Genau da hin, wo es weh tut. Glanz in der ärmsten Hütte, Segen auf der Flucht.
Und wenn die ganze Welt das Kampfgeschrei der nationalen Stärke anstimmt, wir Christen können da nicht einstimmen. Unsere christliche Tradition erzählt nämlich die Botschaft vom Abstieg und vom Loslassen. Mit dem Kind in der Krippe erzählen wir von der Macht im Zerbrechlichen, von der Kraft in der Schwäche.
Genüge ich? Leiste ich genug? Bin ich würdig?
Nein, bist du nicht. Und das ist Gott sei dank kein Nachteil. Denn Gott ist würdig. Und Gott steigt ab. In die Tiefen unseres menschlichen Lebens. Legt seine Göttlichkeit, seine Würde in die Krippe, in die nackte Existenz. Verschwenden wir doch nicht unsere Zeit damit, uns selbst und uns gegenseitig beweisen zu wollen, dass wir so nackt und hilflos gar nicht sind.
Die Welt will nach oben kommen. Wenn von einem Krisengebiet Bedrohung für uns ausgeht, dann sind die meisten von uns ohne weiteres bereit zu einem präventiven Eingreifen. Im Klartext: bei Bombardierungen und Erschießungen den Tod tausender Menschen in Kauf zu nehmen. Ein Land vor dem Terrorismus und die eigenen wirtschaftlichen Interessen zu schützen scheint so plausibel. Doch unausweichlich folgt daraus die Notwendigkeit der Kriegswirtschaft, folgen daraus die obszönen Profite der Waffenhersteller und -händler. Wir pflegen unser Selbstbild und unsere Herrschaft. So vermeiden wir den Weg des Abstiegs.
Es ist schwer mit Erniedrigung umzugehen. Damit meine ich, mir Fehler und Scheitern so schwer eingestehen zu können. Ich will mich rechtfertigen, mich absichern, die Bloßstellung vermeiden, ich will mit meinen Verdiensten anerkannt werden. Erniedrigt werden, so erlebe ich das, weckt den Impuls der Rache in mir. Ich wehre mich zutiefst dagegen zu verlieren, weil es mich im Innersten verletzt.
Macht, Ansehen, Besitz – das sind die großen Versuchungen, denn sie hindern uns daran, Jesus nachzufolgen. Immer geht es um Aufstieg. Dabei wissen wir insgeheim, wenn wir hier sitzen, doch ganz genau, was Gott will. Dass wir unten ankommen, beim neugeborenen Sohn Gottes in der Futterkrippe. Dass wir die Straße des Friedens und der Demut, den Weg der Vergebung, der Gewaltlosigkeit, der Liebe zu den Niedrigsten, den Pfad der Berührbarkeit gehen. Die Straße, die nach unten führt. Das ist nicht der Weg in die Hölle, sondern der Weg ins Leben. Runter - das ist die Schnellstraße, der direkte Weg zu Gott. Das ist der Kern der Lehre und des Lebens Jesu.
Das ist noch anspruchsvoller als der Weg vom Äußeren zum Inneren, von den Äußerlichkeiten zum Wesenskern. Nicht waagerecht verläuft der Weg, sondern runter. Gott verwendet gerade das, was wir verweigern, verleugnen und fürchten, weil es unterlegen, demütigend und nach Niederlage aussieht. Die Bibel ist voll davon. Es sind die Bloßgestellten, die Ausgeschlossenen und Außenseiter, die ausgewählt werden. Gott verzichtet auf weltliches Ansehen, seinem Menschsein sollen wir nacheifern. Damit wir zu unserer Menschlichkeit finden. Wir sind hier, heute an Weihnachten, um die Angst abzulegen. Zum Beispiel heute abend beim Essen. Das Äußerliche ist nicht so wichtig. Umso wichtiger ist die Begegnung, ja, ich begegne dir heute Abend neu. Meine Schatten, meine Stärken – ich fürchte mich nicht! Und beim nächsten Mal, wenn wieder ein Mensch oder eine Gruppe oder ein Volk Schuld sein soll, überwinde ich meine Angst und trete dem entgegen. Damit wir Menschen werden, fühlende, mitfühlende Mitmenschen . Für's ganze Jahr soll das vorhalten, was uns heute am Heiligen Abend berührt. Etwas loslassen von unserem Ego, unserer Sicherheit. Verbundenheit spüren über alle Grenzen hinweg. Hingeben und empfangen. Lass dich berühren von dem, was unten liegt. Wenn wir absteigen, kommen wir an. Nur wer absteigt, kommt auch an. Bei sich selbst. Bei den Menschen. Bei Gott. In der Liebe.
Amen. Es gilt das gesprochene Wort.
Pfarrerin Susanne Domnick
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 17. Dezember 2016
Schöne Bescherung
Haben Sie schon alle Geschenke?
Eine Woche vor Weihnachten kann so mancher unter Stress geraten, wenn die Zeit fürs Vorbereiten gefehlt hat oder das Angedachte bislang noch nicht gefunden wurde. Aber vielleicht gehören Sie auch zu denen, die sagen: in diesem Jahr schenken wir uns nichts!? Wie auch immer: unsere Erfahrungen mit dem Schenken dürften sehr unterschiedlich sein. Freude und Enttäuschung haben wir schon erlebt, Begeisterung und vielleicht sogar auch schon mal ein richtiges Verärgert sein. Wenn ich mich zurückerinnere an das weihnachtliche Schenken in meiner Familie, dann fällt mir in besonderer Weise mein Vater ein und die Art und Weise, wie er ein Geschenk entgegen nahm. Er bestaunte dabei vor allem und für lange Zeit die Verpackung. Er freute sich an dem Geschenkpapier, an dem Muster, an den Farben, daran, wie es eingebunden war. Er wiegte es in Händen, er begutachtete seine Form, er hielt es an sein Ohr und lauschte daran. Sein Interesse schien gar nicht so groß zu sein, das Geschenk selber auszupacken. Vermutlich weil er sowieso schon wusste oder ahnte, was sich in so manchem Geschenk verbarg. Meine Mutter schenkte ihm jedes Jahr einen Wollpullover. Dieses Geschenk ließ sich leicht erraten und ertasten. Im Nachhinein erkläre ich mir sein Verweilen und Zögern beim Auspacken so: das Geschenk in seinen Händen, das noch nicht ausgepackt war, war wie eine Verheißung für ihn. Es war ein geheimnisvoller Moment. Vielleicht schwang im Unbewussten ein Moment der Sehnsucht mit und damit die Frage, was er sich denn eigentlich im tiefsten Inneren wünschen würde und was denn da vielleicht noch kommen könnte in seinem Leben. Gab es noch etwas, worauf er wartete? Jede Verhüllung enthält eine Verheißung. Jedes Geschenk deutet etwas Größeres an, eine Wirklichkeit, die sich nicht in Zahlen oder gar in einem Geldwert ausdrücken lässt. Geschenke, wenn sie von Herzen kommen, sind Zeichen, die deutlich machen möchten: bei dir ist gut sein. Mit dir fühle ich mich verbunden und will ich auch weiterhin verbunden bleiben. Und genau das ist das Anliegen, um das es Gott an Weihnachten geht, wenn er sich uns in seinem Sohn Jesus Christus schenkt. Ja, Gott selbst macht uns ein Geschenk. Sein liebstes und größtes, sein Kind überreicht er uns als Zeichen seiner Liebe zu uns Menschen. Ob wir es annehmen und auspacken? Ihnen allen wünsche ich eine schöne und gesegnete Bescherung!
Pfarrerin Claudia Ginkel, Evangelische Kirchengemeinde Friedberg
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 20. November 2016
Hoffnung durchzieht
Der November ist ein grauer Monat und kann einen gehörig runterziehen. Seine Themen und Fragen wiegen schwer. Wir gedenken der Pogrome gegen Jüdinnen und Juden, wir erinnern uns an die Opfer von Krieg und Gewalt. Wir fragen nach dem, was nicht gut läuft in unserem Leben und Zusammenleben. Und an diesem Wochenende ist auch noch Totensonntag. In diesem Jahr kommt mir der November besonders undurchsichtig und schwer vor. Nicht wegen der Wetterlage, sondern aufgrund dessen, was in unserer Welt vor sich geht. Allzu einfache Antworten auf die schwierigen Fragen unserer Zeit 3nden ihr Gehör. Autoritäre Kräfte drängen an die Macht. Der Traum von einem Zusammenleben in Freiheit, Gleichheit und Solidarität droht zu verblassen. Wie soll man da hoffnungsvoll bleiben?
Mir hilft ein Vergleich, den ich mir vom früheren Bundespräsidenten Johannes Rau borge. Er lautet: Die Ho4nung ist „nicht das Sahnehäubchen auf dem Kuchen, sondern die Hefe im Teig“. Die Hoffnung ist nicht die süße Zugabe, die noch obendrauf kommt, wenn es eh schon gut schmeckt. Als „Hefe im Teig“ wirkt die Hoffnung durch unser ganzes Leben. Sie durchzieht gerade auch alle Sorgen und Ängste und alles, was bitter oder undurchsichtig erscheint. Sie gilt uns von Gott her für alle Zeiten und sie gilt der ganzen Welt. Sie bringt Luft ins Schwere und treibt an.
In diesem November würde ich diese Hoffnung konkret so ausdrücken: Es ist die Hoffnung, dass der Friede stärker sein wird als Hass und Gewalt. Es ist die Hoffnung, dass ein Zusammenleben, in das sich alle einbringen können, so verschieden sie auch sind, für das Wohl mehr bringt als die Abschottung der Einzelnen. Und es ist die Ho4nung, dass es mit dem Leben reicher weitergeht als wir es uns vorstellen können.
André Witte-Karp, Pfarrer und stellv. Dekan im Dekanat Wetterau
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 11. September 2016
Bilder gegen den Terror
An diesem Sonntag jähren sich die Terroranschläge vom 11. September 2001 zum fünfzehnten Mal. Wen man auch fragt, viele wissen noch, was sie an 9/11 getan haben. Die Bilder dieses Tages haben sich tief in unser Gedächtnis eingebrannt. Heute, fünfzehn Jahre später, scheint sich zu verfestigen, was wir damals geahnt und befürchtet haben: Dass dieser Tag eine Zeitenwende markieren könnte.
Mit dem 11. September 2001 ist der Terror in die Weltgeschichte eingedrungen. Immer weiter hat sich die Spirale des Schreckens und der Gewalt, des Krieges und des Todes seitdem gedreht. Die militärischen Antworten haben den Hass weiter geschürt, den sie bekämpfen wollten. Und spätestens seit diesem Sommer wissen wir, dass auch die schrecklichsten Aspekte der neuen Weltgeschichte sich nicht draußen vor unserer Tür halten lassen.
Zur Logik des Terrors gehören das Drama und die Eskalation. Angst und Schrecken sollen sich steigern, sich weiter verbreiten, unser alltägliches Leben und Zusammenleben infizieren. Wie lässt es sich aus dieser Spirale aussteigen? Vielleicht ist ein erster Schritt, sich nicht in die erschütternde Erregung hineinziehen zu lassen. Nicht jede Nachricht zu verfolgen, die Normalität zu suchen. Im privaten wie im öffentlichen Leben. Und dabei den Menschen, auf die ich treffe, offen und mit einer interessierten Aufmerksamkeit zu begegnen. So können sich Bilder des alltäglichen Lebens in meinem Kopf festsetzen, die mich bereichern an denen ich mich freuen kann und an denen ich festhalten will. Das nimmt Angst und stärkt nicht zuletzt das Zusammenleben in einer freien und solidarischen Gesellschaft.
André Witte-Karp, Pfarrer in Friedberg und stellv. Dekan im Evangelischen Dekanat Wetterau
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 31. Juli 2016
Festhalten
Ich kenne das aus den Geschichtsbüchern. Meine Mutter kannte es aus ihrer Jugend. Mein Vater aus seinem Erwachsenenleben. Dass Richter abgesetzt werden, Journalisten verhaftet, Bürgerrechte ausgesetzt, das Parlament entmachtet und die Befugnisse des Staatsoberhauptes ausgedehnt werden. Dass ein (erfundener) Putschversuch als Rechtfertigung herangezogen wird.
Im Theologiestudium habe ich gelernt, wie die christlichen Kirchen darauf reagiert haben. Wie alle. Der Großteil hat sich einen Gewinn an Einfluss versprochen und mitgejubelt. Die Minderheit hat in eingeschränktem Rahmen widersprochen - und dabei ihr Leben riskiert. Als ich jung war, dachte ich, die hätten sich doch wehren müssen. Als ich älter wurde, verstand ich, wie schwer das gewesen war. Aber immer habe ich damit gehadert, dass die internationale Staatengemeinschaft zugeschaut hat.
Heute schaue ich fassungslos zu. Ich sehe, wie ständig an der Spirale der Gewalt weitergedreht wird, von allen. Und wie jede Verschärfung und Einschränkung von Rechten zu weiterer Gewalt führt. Ich bin bis in den Grund meiner Existenz enttäuscht. Wir hätten so unglaublich gute Chancen, es im 21. Jahrhundert besser zu machen.
Ich halte mich an einer Bitte aus dem Vaterunser fest. Ja, ich bin Christin und daran will ich unter allen Umständen festhalten, egal, was mich verzweifeln lässt: Vergib uns unsere Schuld und lass uns denen vergeben, die an uns schuldig werden.
Pfarrerin Susanne Domnick, Evangelische Kirchengemeinde Friedberg
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 16. Juli 2016
Martin
Martin ist mein Freund. Er ist vier, ich bin sechsundfünfzig. Wir verstehen uns gut.
Als ich aus dem Urlaub zurückkam, fragte Martin mich, ob es Alleskönner gebe. Ich überlegte, aber mir fiel niemand ein, der alles kann. Auch Martins Opa, der wirklich viel kann, ist kein Alleskönner. Also sagte ich: „Vielleicht Gott?“ Ich sah, wie es in Martins Kopf arbeitete. Er dachte nach. Ich auch. Wenn Gott alles könnte, könnte er Kriege beenden und den Mördern die Gewehre wegnehmen, er könnte den Nordpol um ein paar Grade runterkühlen und den Waisen ihre Eltern wiedergeben und den Bettlern Brötchen schenken. Tut er aber nicht. Manche sagen: Er könnte schon, er will nur nicht. Das wiederum will ich mir nicht vorstellen. So ein Gott wäre kaltherzig. Bleibt die Möglichkeit, dass auch Gott kein Alleskönner ist.
Es gibt Menschen, die tun so, als könnten sie alles. Sie haben immer ein Abschleppseil, ein Pflaster, ein Kochrezept und eine passende Antwort. Sie stellen keine Fragen, weil sie schon alles wissen. Sie sind mir nicht sympathisch. Wenn einer alles kann, braucht er keine anderen mehr. Eine Welt voller Alleskönner wäre eine Welt voller Einzelgänger. Vielleicht dachte Gott, Alles können ist auf acht Milliarden Menschen besser verteilt als auf einen einzigen Gott.
Martin kann gute Fragen stellen. Und aus Sand Kuchen backen. Ich kann zuhören und die Kirche aufschließen. Wir sind zwei. Das ist doch ein guter Anfang.
Pfarrerin Susanne Domnick, Evangelische Kirchengemeinde Friedberg
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 22. August 2015
In the ghetto
Die Zeichen standen auf Elvis am vergangenen Wochenende. Petticoats durchwehten Friedberg und Bad Nauheim, die schicken Oldtimer rollten vorüber, auf den Bühnen wechselten sich die Elvis-Interpreten ab. Die Songs aus den Fünfzigern und Sechzigern haben trotz Regens viel Volk aus allen Altersgruppen angezogen. Ich habe das erste Mal bewusst auf die Texte von Elvis Presley gehört. Sie sind herzergreifend.
„Sieh dich um, sind wir denn blind? (Warum) drehn wir unsern Kopf weg und schauen in die andere Richtung? Ja, so macht es die Welt und der kleine hungrige Junge mit der tropfenden Nase spielt in den kalten Straßen in the ghetto. Und sein Hunger brennt...“ Und seine Mutter weint – bei seiner Geburt, weil sie nichts hat, und bei seinem Tod, weil er als junger Mann erschossen wird, als er selbst mit einer Waffe loszieht.
Ich denke an die Flüchtlinge aus Afrika. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zum Beispiel. In Gießen ist letzten Monat ein Achtjähriger angekommen. Wie groß muss die Verzweiflung der Mutter gewesen sein, dass sie ihr Kind auf eine ungewisse Flucht schickt, weil sie nicht warten will, bis es von irgendeinem Kämpfer erschossen wird oder selbst zur Waffe greift. Wenn sich jeder von uns Leserinnen und Lesern dieser Zeitung nur für einen einzigen Flüchtling interessiert und einsetzt, werden wir alle gewinnen.
Ja, wir sollten sie auch hier nicht in Ghettos sperren. Nicht in Container und nicht in Zelte – da gehören nicht nur keine Frauen und Kinder, sondern überhaupt keine Menschen hinein. Was singt Elvis? „Er lernt zu stehlen, er lernt zu kämpfen in the ghetto“ Und dann stehen die Leute betroffen herum um den zornigen jungen Mann, der da erschossen liegt. Lassen wir es doch nicht dazu kommen. „People, don't you understand: The child needs a helping hand“. Die Flüchtlinge gehören zu uns, wie schon einmal vor 70 Jahren. Im Gegensatz zu damals haben wir heute genug Platz.
Ich stelle mir vor, dass wir alle, die wir uns von Elvis Presley begeistern lassen, unsere helfende Hand denen ausstrecken, die aus der „kalten Chicago-Nacht“ geflohen sind. Wir können das anders machen mit den Flüchtlingen, niemand muss bei uns „in the ghetto“ landen!
Pfarrerin Susanne Domnick, Evangelische Kirchengemeinde Friedberg
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 20. Juni 2015
Nagelprobe
Für Fußballfans war es das Thema am vergangenen Wochenende: Jogi Löw schaut nicht seinen Kickern beim EM-Qualifikationsspiel gegen Gibraltar zu, sondern feilt sich stattdessen die Fingernägel. „Mir war ein Fingernagel eingerissen, da musste ich reagieren“, ließ er später verlautbaren. Für einen Moment wurden die Zuschauer so Zeugen einer eher ungewöhnlichen Nagelprobe. Nicht die Mannschaft stand auf dem Prüfstand, sondern der eingerissene Fingernagel des Bundestrainers.
Mir ist das doppelte Wortspiel von der Nagelprobe seither nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Gibt es eine solche eigentlich auch für den Gottesglauben? Wenn es uns gut geht, wenn alles glatt läuft, dann steht Gott meist nicht in Frage. Doch wenn es anders kommt als gedacht und erhofft, wenn mir Steine in den Weg gelegt werden, ich Belastendes erfahre und mir beispielsweise eine schwere Krankheit zu schaffen macht, dann fangen wir schnell an zu hadern und zu zweifeln. Gibt es für solche Momente eigentlich auch so etwas wie eine „Feile“?
Eine meiner „Glaubens-Feilen “ sind die Psalmen in der Bibel. In einem der bekanntesten heißt es einmal: „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir.“ Diese Worte kann ich mitsprechen, sie zu meinen machen, mein Vertrauen in sie hinein legen und dabei an die Erfahrungen vieler Menschen, die vor mir gelebt haben, anknüpfen. Mit ihnen feile ich sozusagen behutsam um die angerissene Stelle herum. Es tut gut, solche Glaubens-Feilen bei sich zu führen.
Pfarrerin Claudia Ginkel, Evangelische Kirchengemeinde Friedberg
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Wort zum Sonntag ∙ Wetterauer Zeitung ∙ 25. Januar 2015
Tu deinen Mund auf
Seit 1996 ist der 27. Januar in Deutschland Gedenktag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz und damit aller Opfer des Nationalsozialismus. 2015 jährt sich jenes Ereignis zum siebzigsten Mal. Das Heraufdämmern der nationalsozialistischen Rassen- und Herrenmenschenideologie etikettierte damals menschliches Leben zu entartetem, lebensunwertem, missliebigem Untermenschsein. Die Folge: Ungezählte und unzählige wurden zu Opfern und verloren ihr Leben.
„Tu deinen Mund auf für die Stummen ... und sei Anwalt der Rechtlosen und Armen.“
Fassungslos fragen wir bis heute: Warum haben so wenige diesen Ruf aus dem biblischen Buch der Sprüche gehört und befolgt?
Diesem alten Ruf zur Zivilcourage zu folgen und Verantwortung zu übernehmen ruhte, auf einem Gott, der das freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat fordert und der dem, der darüber zum Sünder wird, Vergebung und Trost zuspricht“, so Dietrich Bonhoeffer, der später selbst Opfer des Nationalsozialismus wurde.
Und selbst ohne einen Gottesglauben leben Menschen doch mit der Hoffnung: Nur der Mensch kann dem Menschen helfen!
Für beides wäre der Ruf nach Zivilcourage in dem biblischen Vers offen! „Tu deinen Mund auf für die Stummen …“ Der Glaube hinter dem guten Spruch braucht das Wort Gott nicht. Der weltliche „Glaube“ vertraut auf Menschen, die die Menschenrechte aufrichten. 70 Jahre danach gibt es gute Gründe innezuhalten und auch zu gedenken; 70 Jahre danach gibt es Gründe wachsam zu sein gegenüber all jenen, die all zu schnell etikettieren in unseren Städten im Namen von Kultur und Religion.
Wer beten kann, fleht seinerseits mit Worten des Psalms 83: „Gott, sei nicht stumm ...“, und mit dem Propheten Jesaja rufen er und sie: Gott, bewahre uns davor, zu stummen Hunden zu werden, „die nicht bellen können“ (Jesaja 56,10).
Pfr. Volkhard Guth, Dekan des Ev. Dekanats Wetterau